Wort zum Sonntag
Genau ein halbes Jahrhundert ist es her. Schwester Beatrix Mayrhofer, die „emeritierte“ Präsidentin der österreichischen Frauenorden, erlebte Joseph Ratzinger als scharfsinnigen Dogmatikprofessor in Regensburg. Sein Tod am 31. Dezember weckte Erinnerungen.
Jetzt habe ich noch einmal nachgeschaut. Nein, leider, ich habe keine Mitschriften mehr, ich habe sie alle weggeworfen. Auch das eine Manuskript der Vorlesung aus dem Jahr 1972/73 habe ich nicht aufgehoben. Wenn ich Joseph Ratzinger oder einen anderen Lehrer aus meiner Studienzeit zitieren will, kann ich ja in seinen Büchern nachlesen. Bücher von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt stehen einige in meinem Regal.
Aber heute will ich nicht nachschauen. Heute, am letzten Tag des Jahres 2022, ist der emeritierte Papst gestorben. Ich will keinen Nachruf schreiben.
Zurufen möchte ich ihm, ihm von Herzen alles Gute wünschen und ihn bitten, dass er weiterhin tue, was er in all den Jahren getan hat: eintreten für die Kirche am Thron der Gnade.
Er durfte hinübergehen und ich meine, dass ihn jetzt das große Staunen erfasst, die Freude darüber, dass er vom Glauben zum Schauen gelangen darf.
Ich kann aus keiner Mitschrift zitieren. So suche ich in meinem Gedächtnis nach den besonderen Momenten, die ich selbst erlebt habe als Studienanfängerin in Regensburg.
Nachdem ich in Wien schon vor meinem Eintritt in die Gemeinschaft der Schulschwestern die Dissertation in Pädagogik fast abgeschlossen und zwei Semester Theologie studiert hatte, durfte in nach dem Noviziat in München zwei Auslandssemester in Regensburg erleben.
Professor Ratzinger hielt seine Hauptvorlesung. Die Studenten stürmten seine Vorlesungen, aber nicht, um zu stören, wie zuvor in Tübingen, sondern um zu hören.
Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich viel mitgeschrieben habe. Ich habe gehört und gestaunt. Mir ist eine neue Welt aufgegangen: Das ist theologisches Denken in einer neuen Weite, eine Verkündigung der biblischen Botschaft im Dialog mit griechischer Philosophie, mit der Lehre der Kirchenväter und mit neuester Literatur.
Ratzinger, selbst ein Meister des Wortes, kreiste in einer ständigen Suchbewegung um das Wort, um das Wahr-Sagen des Unsagbaren. Unermüdlich suchte er nach der Vermittlung, dass Glaube vernünftig ist, dass Glaube und Vernunft einander nicht widersprechen, sondern hineinmünden in die erste und letzte aller Erkenntnisse: dass Gott die Liebe ist, menschgewordene Liebe.
Obwohl ich Anfängerin war, durfte ich in diesen Auslandssemestern nicht nur die Vorlesungen besuchen, sondern auch an den Seminaren teilnehmen.
So habe ich den Herrn Professor auch erlebt in gemütlicher Runde nach dem Seminar, der Witze erzählen und dem man mit kleinen Süßigkeiten Freude bereiten konnte.
Ich habe den Theologen gehört, der vom Konzil erzählt hat, aber auch von den neuen Ansätzen in der Liturgie und in der ökumenischen Bewegung.
Unvergesslich ist mir als Ordensfrau auch die Erklärung, dass es in der Geschichte der Kirche schon Zeiten gegeben hat, in denen die Äbtissin eines Frauenklosters die Stola getragen und in der Liturgie den Vorsitz innehatte.
Seine berühmte Einführung in das Christentum habe ich, haben wir wohl alle gelesen. Deutlich erinnere ich mich an seine Feststellung, dass er als Professor kein Recht hätte, den Studenten den Glauben der Kirche zu erschließen, wenn er nicht auch in der Lage wäre, den Mitfeiernden seiner kleinen Gemeinde am Sonntag das Evangelium auszulegen.
Dankbar darf ich sagen: Ich habe den Menschen Ratzinger erlebt.
Wenige Jahre später bin ich Professor Ratzinger noch einmal begegnet. Er hielt einen Vortrag für junge Ordensfrauen in München. Wir sangen zum Abschluss ein Lied, eine Vertonung der Stelle aus dem 2. Korintherbrief: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft, die ist in Schwachheit mächtig!“ Professor Ratzinger hat dieses Lied sehr gemocht.
Später erst ist mir klargeworden, dass er zu dieser Zeit bereits gewusst oder zumindest geahnt hat, dass er Bischof werden wird. Vielleicht hat er damals schon gedacht, was er später im Konklave gedacht hat. Als deutlich wurde, dass er gewählt werden wird, hat er gebetet: „Herr, tu mir das nicht an!“ Der Mitarbeiter der Wahrheit hat im Gehorsam den Ruf in den Weinberg angenommen.
Ich habe seine Berufung in die Leitungsämter der Kirche manchmal bedauert. Seine große Liebe zum Wort konnte er nur zögerlich umsetzen in ein unverkrampftes Zugehen auf die Menschen, seine persönliche Lauterkeit ließ ihn nicht erkennen, wie ihm personelle Fehlentscheidungen schadeten – ihm selbst und der ganzen Kirche.
Es ist verständlich und doch bedauerlich, dass sein Rücktritt vom Papstamt als vielleicht größte und bleibende Leistung in der Kirchengeschichte gesehen wird.
Jetzt ist die Last der Arbeit, des Entscheidens und des Leidens von seinen Schultern genommen. Möge das Licht seiner Weisheit zum Leuchten kommen.
Wort zum Sonntag
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