Wort zum Sonntag
„Eine Umarmung bitte!“ Mit diesen Worten zog mich eine Frau mit schwerer Krebserkrankung zu sich hin. Für ihren Aufenthalt im Hospiz wollte sie einen persönlichen Segen und ein Gebet. In diesem Augenblick habe ich verstanden: Beten heißt, sich von Gott umarmen lassen. Es sind nicht viele Worte notwendig. Beten geschieht einfach. In allen Lebenslagen – vor allem dann, wenn uns die Schönheit und Zerbrechlichkeit des Lebens deutlich vor Augen stehen.
„Du reiches, fließendes, unaufhaltsames, unerschöpfliches Du“, heißt es in einem Gebet von Martin Gutl (1942–1994), dem Mitbegründer der österreichischen Telefonseelsorge. Für mich war dieser steirische Priester eine wichtige Leitfigur, um meine Berufung zu finden. Er hat unzählige Menschen begleitet, ihre Schicksale „aufgesaugt“ und mitgetragen. Aus seinem persönlichen Ringen mit Gott sind zahlreiche Gebete entstanden – Texte, die aufrichten und unter die Haut gehen. Echtes Beten fasziniert. Auch von den Jüngern Jesu wird dies berichtet. Als sie sahen, wie er zu seinem Vater betete, gab es für sie nur einen Wunsch: „Herr, lehre uns beten!“ In dieser Schule Jesu sind auch wir.
Elias Canetti (1905–1994) hat von sich erzählt, dass er selbst als Agnostiker immer öfter an Gott zu denken begann – vor allem dann, wenn er eine verlässliche Adresse für seine wachsende Lebens-Dankbarkeit suchte: „Mehr noch als für seine Not braucht man einen Gott für seinen Dank.“ Beten bricht die Arroganz, dass wir die Macher des Lebens seien. Und alles nur von unserem Tun abhängen würde. Wer betet, nimmt sich als Teil eines größeren Ganzen wahr und beginnt über die täglichen Wunder zu staunen. Beten vermittelt die Gewissheit, nicht einem blinden Schicksal ausgesetzt zu sein. Die verlässliche Adresse ist der leidenschaftlich liebende Gott – keine unerreichbare Höchstinstanz.
Den gefürchteten oder banalisierten „Herrgott“ möchte ich als „Hörgott“ bezeichnen. Diese kreativ schlampige Vokalverschiebung ändert sehr viel. Der Hörgott ist der unendliche Resonanzraum für die unzähligen Stimmen dieser Welt, für die lauten und leisen. Er ist ganz Ohr. Und ganz Herz. Keine menschliche Stimme ist ihm fremd. Auch nicht die verzweifelten Schreie seiner geschundenen Schöpfung. Beten ist jedenfalls nicht kompliziert. Es gehört zum Herzschlag unseres Menschseins und bringt eine heilsame Ruhe in nervöser Zeit.
Wie Tau auf den Gräsern
liegst Du auf meinen Gedanken.
Wie ein Morgen breitest Du Dich aus
über meine Tiefen.
Wie ein Abend hüllst Du uns ein
in Dein Schweigen,
Du bleibendes Antlitz
hinter unseren flüchtigen Blicken,
Du strömendes Du
hinter meiner Maske.
Du Ozean in den Augen der Guten,
Du Friede
in den Händen der Liebenden,
Du reiches, fließendes,
unaufhaltsames,
unerschöpfliches Du!
Du helles, Du dunkles Du!
Du überdachst mich
mit dem Zelt Deines Alls.
Du birgst mich,
Du erziehst mich zur Weite.
Du strömendes Du!
Martin Gutl (1942–1994)
Priester und Autor
Wort zum Sonntag
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