Martin Pichler und Annemarie Jofen erwachten aus dem Koma und waren unfähig, sich verständlich zu machen. Schlimm war die Phase, in der sie um jedes Wort rangen. Eine bittere Erfahrung, in der sie im Glauben, im Gebet sowie in verlässlichen Beziehungen Halt fanden.
Nach einem Schlaganfall, den er am Beginn einer Skitour am 1. Mai 1988 erlitt, verlor der damals 21-jährige Bad Haller Martin Pichler für lange Zeit seine Sprache und die Fähigkeit, sich verständlich zu machen. Vier Jahre später hatte er sich in das Leben so weit zurückgekämpft, dass er arbeiten gehen konnte: Vor dem Schlaganfall war er Medizinstudent, nun wurde er Pfleger im Bezirksseniorenheim Bad Hall. Er hat es hier mit Menschen zu tun, die ein ähnliches Schicksal wie er zu meistern haben. So nennt er sich auch humorvoll „Animateur“. Er will Mut machen.
Zeit, nachzudenken
Die Zeit der Aphasie, der Sprachlosigkeit und des Sich-nicht-verständigen-Könnens, erlebte Martin Pichler als sehr schlimm. Als er aus dem Koma erwachte, nahm er seinen Bruder und seine damalige Freundin am Spitalsbett wahr. Sie redeten mit ihm. „Ich wollte etwas sagen, baute einen Satz zusammen und begann. Doch die Sprache war weg.“ Das blieb ein halbes Jahr so. „Da hast du Zeit nachzudenken. Du bist in deinem Gefängnis, du bist ein großer Käfig.“ Dieses Gefühl bestätigt seine Lebensgefährtin Annemarie Jofen. Sie hatte 2007 eine Gehirnblutung mit Schlaganfall. Auch sie konnte sich nicht mehr verständlich machen.
Der unverständliche Verstehende
Unendlich traurig erfährt sich der Mensch in dieser Situation, in der er alles versteht, aber sich nicht verständlich machen kann. Mühsam haben Martin Pichler und Annemarie Jofen mit großer Unterstützung durch Logopädinnen, Eltern und Freund/innen wieder sprechen gelernt. Am Weg dahin ist vieles schiefgegangen. Denn Aphasiker haben große Probleme, Gedanken und Wünsche auszudrücken. Nicht ihre Denkfähigkeit ist betroffen, sondern das Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben. „Was möchtest du trinken?“, wurde Annemarie Jofen zum Beispiel gefragt. „Tee“, sagte sie, glaubte aber „Kaffee“ zu sagen. Aus „Ja“ kann „Nein“ werden, aus „rechts“ „links“, aus „oben“ „unten“. Und das Zahlen-Verstehen war komplett gelöscht. „Alles ist in Gedanken da, nur du kannst es nicht sagen.“
„Wird schon werden!“
Die Menschen, die ans Krankenbett auf Besuch kommen, sind ob solcher Kommunikations-Probleme hilflos. „Wird schon werden!“, meinte eine Besucherin. „Solche Sprüche halfen mir gar nicht“, sagt Annemarie Jofen. „Ich hatte nur die Frage: Wieso ich. Warum?“ Martins Kämpfernatur hat ihn so weit sein Handicap durch Üben, Üben, Üben verringern lassen, dass er sich sprachlich wieder gut verständigen kann. Das braucht aber entsprechende Rahmenbedingungen, denn wenn in einem Raum mehrere Menschen durcheinanderreden, „wird es sehr schwierig“. Stress wirkt sich sprachhemmend aus. Doch die Zeit der Trauer liegt längst zurück, auch wenn Martin Pichler noch genug Grund zu hadern hätte. Seine rechtsseitige Lähmung ist weiter deutlich vorhanden. Aber er strahlt, wenn er von heute erzählt. Etwa davon, dass er mit einem Freund Gitarre spielt. Er greift die Bünde, der Freund schlägt die Saiten. Martin und Annemarie sprühen vor Lebensfreude: Als Mindestpensionistin hat sie ein bescheidenes Einkommen. Doch in ihrem Leben hat vieles ein anderes Gewicht bekommen. Haben ist nicht wichtig, sagen beide. Lebe jetzt, freue dich an der Natur, sei mit Gott verbunden. Verjage deine traurigen Gedanken. Das will Martin Pichler auch in seiner Selbsthilfegruppe Aphasiker und Schlaganfallspatienten im Bezirk Steyr vermitteln.
„Geh, Burli!“
Natürlich gibt es schlimme Erlebnisse. Martin Pichler erzählt zum Beispiel davon, dass er am Bahnschalter – Stress! – eine Fahrkarte kaufen wollte, aber nicht herausbrachte, wohin. Aus der sich hinter ihm gebildeten Menschenschlange rief ein Mann nach vorne: „Geh, Burli, i wü den Zug dawischn!“ Martin ging weg, suchte seinen Freund und weinte bitterlich. Doch die Lebensfreude kommt immer wieder zurück. Annemarie Jofen erzählt, was sie im Koma erlebt hat: Sie war nahe bei Gott und bei den Engeln. Die haben ihr gesagt: Du musst wieder zurück, du hast noch eine Aufgabe.“ Vielleicht ist dies die Aufgabe von beiden: Freude zu leben, trotz eines schweren Schicksals.
Wachkoma
In Österreich leben 800 bis 1000 Menschen im Wachkoma, auch apallisches Syndrom genannt. Ursachen sind unter anderem schwere Schädel-Hirn-Verletzungen infolge eines Unfalles oder ein Zustand nach Reanimation.
Aphasie
Aphasie ist eine Sprachstörung nach einer Erkrankung oder Verletzung des Gehirns. Ein Schlaganfall, eine Gehirnblutung oder z.B. ein Schädelhirntrauma (SHT) kann die Ursache dafür sein. In Deutschland, Österreich und der Schweiz treten jährlich etwa 35.000 Neuerkrankungen auf.
Schlaganfall
In Österreich werden jährlich etwa 20.000 Schlaganfälle gezählt. Eine Folge nach Schlaganfall kann Aphasie sein.