Europa ist in Bewegung. Geht es auseinander – oder findet man zusammen? Beim Geld, in der Politik, in den sozialen Spannungsfeldern ist das eine Kernfrage – und beim Verhältnis zwischen Europa und den Religionen ist es auch so. Die Entwicklung ist unvorhersehbar geworden.
Was die christlichen Religionsgemeinschaften betrifft, sind zwei gegensätzliche Trends zu spüren: Eine neue Aufmerksamkeit für Kirchen, besonders für die Positionen in sozialen Fragen, ist da. Da spielt Papst Franziskus eine große Rolle. Ihn hält man für glaubwürdig. Auf der anderen Seite sehen sich Kirchen zunehmend einer gleichgültigen, oft fast aggressiven Haltung ausgesetzt. Die Missbrauchsfälle und zuletzt die Irritationen um einen zu teuren Bischofssitz in Limburg verstärkten diese reservierte Haltung. Eine „nachhaltige Vertrauenskrise“, auch bei den Gläubigen, ortet etwa der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Alois Glück.
Kirchendiskussion in Linz
Wie es Europa mit den Religionen hält, war einen Nachmittag lang Thema in der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz beim traditionellen „Dies academicus“ (akademischen Tag) am 21. November. Das Christentum ist keineswegs eine Altlast Europas, meint Severin Renoldner, Sozialreferent der Diözese Linz. Wenn sich Kirchen und die Gesellschaft „freundschaftlich verbünden“, können sie vielmehr Geburtshelfer werden für ein gutes Zusammenleben in Europa sein. Die Kirchen sollten sich nicht fürchten, ihre Botschaft zu verkünden. „Das geistige Europa war nie an eine bestimmte Geografie gebunden“, meint Renoldner. Das Christentum schon gar nicht – es kam schließlich aus dem Nahen Osten nach Europa. Die europäischen Werte sind globale Werte, mitgeprägt vom Christentum.
Religiöse Wüste
700 Kilometer von Linz entfernt – in Berlin – nahm der eben ins Amt eingeführte neue Nuntius für Deutschland, Erzbischof Nikola Eterovic, am selben Tag zum selben Thema Stellung. Die katholische Kirche sei „offen und bereit, mit allen Menschen guten Willens zusammenzuarbeiten“ – und zwar, wenn es um die fundamentalen Rechte, zu denen auch die Religionsfreiheit gehört, geht. Sie sollte Vorrang in allen Staaten und internationalen Organisationen haben. Die Entwicklung in Europa lässt auch Rom nicht kalt. „Das Christentum, das Europa so geprägt hat, verblasst“, meinte der Präsident des Päpstlichen Kulturrats, Kardinal Gianfranco Ravasi, in einem Zeitungsinterview (Die Welt, 21. November). Berlin zum Beispiel wäre in religiösen Dingen „fast so etwas wie eine Wüste“ geworden. Droht Europa insgesamt zur religiösen Wüstenlandschaft zu werden? Für Ravasi liegt die Antwort nicht einfach in Missionierung, sondern darin, „dem Ungläubigen etwas mitteilen, was für diesen wichtig und nützlich sein könnte“.
Islam und Europa
Der Tübinger Islamwissenschafter Erdal Toprakyaran sieht auch den Islam auf dem Weg einer Normalisierung der Beziehung zu Europa. Er bedauerte bei der Linzer Veranstaltung, dass sich der Islam den Herausforderungen bei den Frauenrechten, Menschenrechten oder auch dem Naturschutz noch nicht ernsthaft genug gestellt hat. Dass islamische Theologie nun in Deutschland in staatlichen Fakultäten gelehrt wird, wertet er als großen Fortschritt. Der Islam habe wiederholt gezeigt, dass er mit säkularen Staatsmodellen zurechtkommen kann.
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Religionen und europäisches Recht
Für das politische Europa war die Klärung des Verhältnisses zu den Religionen ein schwieriger Prozess. Erst im Jahr 2000 wurde die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ feierlich proklamiert. Nach dem Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrages erlangte sie jedoch erst 2009, gemeinsam mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, Rechtskraft. Umstritten war lange, ob in der Präambel der Eropäischen Verfassung ein „Gottesbezug“ formuliert sein sollte – worauf die Kirchen drängten. Als Kompromiss wurde lediglich auf das „kulturelle, religiöse und humanistische“ Erbe Europas Bezug genommen. Ein dezidiert christlicher Bezug fehlt. Der Linzer Professor für Rechtsgeschichte Herbert Kalb sieht die Staaten in erster Linie als Garanten für den Pluralismus, der für die Demokratien grundlegend wäre. Dazu gehört auch der religiöse Pluralismus. Dass sich die Europäische Union etwa zu Nichtdiskriminierung (Charta der Grundrechte, Art. 21) und zur „Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“ (Art. 22) bekennt, will Kalb nicht überbewertet wissen. Das seien Achtungsgebote, die nicht einklagbar wären. Ähnlich wäre es mit der festgelegten „Dialogpflicht“ mit den Kirchen, etwa in sozialethischen Belangen. Kirchen müssten daher ihre Interessen und Anliegen über entsprechendes Lobbying in den Institutionen durchsetzen.