Geschenk und Aufgabe ist es, die Schrift zu lesen und zu interpretieren. Ein Blick in die jüdische Auslegung eröffnet neue Welten.
Ausgabe: 2014/09, Bibel, Exodus, Matthäus, JHWH
26.02.2014
Es ist ein Gespräch zwischen Israel (Zion) und Gott, das die alttestamentliche Lesung (s. Kasten) erzählt. Das erste Wort hat das Volk. Es klagt: „Verlassen hat mich der Herr (JHWH), und der Herr (Adonai) hat mich vergessen.“ Im Hebräischen ist der Akzent, der damit gesetzt wird, noch deutlicher: Der Ausruf besteht aus nur vier Worten, zwei davon sind der Name Gottes. Warum zweimal? Was ist der Unterschied?
Eine klassische Methode
jüdischer Bibelauslegung ist der Analogieschluss: Kommt eine bestimmte Wortkombination ein weiteres Mal in der Schrift vor? Welche inhaltlichen Akzente werden hier wie dort gesetzt? Sowohl die Zusammenhänge als auch die feinen Unterschiede haben ihre Bedeutung. Die doppelte Nennung des Gottesnamens aus der Klage Israels an Gott wird in Verbindung mit den Eigenschaften der Barmherzigkeit Gottes (Ex 34,6) gesehen; dort ist die Barmherzigkeit Gottes mit ebenfalls zwei Worten beschrieben – „barmherzig bzw. erbarmungsvoll“ und „gnädig“. Was ist hier der Unterschied? Ibn Esra wird zitiert: „Es gibt auch einen Barmherzigen, der keine Kraft besitzt.“ Bei Gott ist das nicht so. Seinem barmherzigen Wesen entspricht seine Wirkmacht, sich gnädig zuzuwenden. Für das verzweifelnde Volk ist beides nicht mehr erfahrbar; nicht nur verlassen, sondern auch vergessen scheint Gott Israel zu haben.
Gott stellt sich
dieser An(Klage) und antwortet: Kann denn eine Frau ihr Kindlein, eine Mutter ihren Sohn vergessen? Selbst wenn sie es könnte – die Beziehung von Müttern zu ihren Kindern wird hier nicht idealisiert! – „ich vergesse dich nicht“. Das Bild der Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind meint Gottes Treue, Beständigkeit. Wie das grundlegend geborgene und genährte Leben im Schoß der Mutter dem Kind geschenkt ist, so ist alles Lebensnotwendige nach der Geburt und ein Leben lang von Gott geschenkt. Jesus spricht mit anderen Bildern – den Vögeln des Himmels, den Lilien des Feldes –, verfolgt aber dasselbe Ziel: seine Zuhörer/innen an die von Anbeginn des Lebens an geschenkte Zuwendung Gottes zu erinnern. Sie ist Grundlage alles Lebens, und Leben bedeutet weiterzuschenken, was uns geschenkt ist.
hbr / peter zürn zum 8. So/JK in „70 gesichter“
Die Bibelstellen: Jesaja, Exodus und Matthäus Doch Zion sagt: Der Herr hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen. Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht. Jesaja 49,14–15
Der Herr ging an ihm vorüber und rief: JHWH ist ein barmherziger und gnädiger Gott Exodus 34,6a
Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? [...] Und was sorgt ihr euch um eure Kleidung? Lernt von den Lilien, die auf dem Feld wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Matthäus 6,26.28