Der Vatikan hat die Ansichten der Gläubigen zu Moralfragen, wie Empfängnisverhütung und Homosexualität zusammengefasst. Eine abweichende Praxis unter den Gläubigen sei noch nicht Grund dafür, die Lehre zu ändern, interpretiert Moraltheologe Martin Lintner das Dokument.
Ob Kindererziehung, wiederverheiratete Geschiedene oder Glaubensweitergabe in der Familie: Wenn sich die Bischofssynoden heuer im Oktober und im Herbst 2015 mit der Familienseelsorge beschäftigen, tun sie das auf Grundlage eines vergangene Woche veröffentlichten Arbeitspapiers. Was aus seiner Sicht von diesem Text her für die Synoden zu erwarten ist, sagt der Moraltheologe Martin Lintner im Interview.Wiederverheiratete Geschiedene, homosexuelle Partnerschaften, Empfängnisverhütung und aus anderen Kulturkreisen zum Beispiel Polygamie stehen als „heiße Eisen“ im Arbeitspapier der Synode. Sind Sie mit der Offenheit zufrieden? Martin Lintner: Dass es so viele angesprochene Themen gibt, ist nicht überraschend: Das Arbeitspapier ist die Zusammenfassung von Zusendungen aus der ganzen Welt. Und dass die Probleme beim Namen genannt werden, ist ein Gebot der Redlichkeit.
Sehr klar arbeitet das Dokument heraus, dass Familien durch immer belastendere Situationen (Arbeitsmarkt, Armut, Krieg, Flucht oder Vertreibung) unter Druck geraten. Ist der Schluss also richtig: Probleme in Familien sind nicht nur die Schuld der beteiligten Personen? Richtig. Es ist wichtig, nicht nur die „heißen Eisen“ zu sehen. Wenn die Kirche die Frage stellt, wie man den Familien helfen kann, dann müssen wir die Faktoren benennen, die das familiäre Leben schwer machen. Neben äußeren Umständen, die Sie angesprochen haben, nennt das Dokument auch Geisteshaltungen wie Individualismus, Hedonismus, die Unfähigkeit oder der mangelnde Wille, sich an einen anderen Menschen zu binden.
Einerseits wird in dem Arbeitspapier die Kluft zwischen der Lehre der Kirche und den Meinungen vieler Katholiken klar angesprochen. Andererseits heißt es mehrmals, man müsse die Lehre besser erklären. Ist so eine Reform möglich? Wir haben es mit zwei Treffen der Bischöfe zu tun: Das erste hat heuer im Herbst die Aufgabe, ausgehend von den Antworten auf den Fragebogen, die im Arbeitspapier zusammengefasst sind, den Ist-Zustand zu erfassen und zu diskutieren. Im nächsten Jahr soll es darum gehen, konkrete Lösungen und Anweisungen zu finden. Auch wenn das Arbeitspapier besagt, die Lehre der Kirche wird nicht verändert, klingt doch durch, dass die Kirche auch inhaltlich anders argumentieren muss, um die Lehre den Menschen nahezubringen. Wir können erstens die Lehre der Kirche bekannter und verständlicher machen. Ich bin überzeugt: Die Familien- und Sexualmoral der Kirche hat sehr viel mehr zu bieten, als weithin bekannt ist. Und zweitens: Wenn es inhaltliche Vorbehalte bei Menschen gegen die Lehre gibt, muss man fragen, wie man damit umgehen kann und ob das nicht möglicherweise eben doch auch Auswirkungen auf die Lehre der Kirche haben kann und muss.
Sehen Sie in dem Arbeitspapier eine Tendenz? Die Haltung ist offenbar die: Eine abweichende Praxis unter den Gläubigen ist noch nicht Grund dafür, die Lehre zu ändern. Man kann ja auch nicht sagen, wir ändern unsere Haltung zur Steuerhinterziehung, wenn viele Menschen Steuern hinterziehen; vielmehr muss man sich fragen, wie man das System verändern kann, damit die Menschen bereit sind, Steuern zu zahlen. Aber es hat jüngst ein Dokument der Internationalen Theologenkommission zum Glaubenssinn (sensus fidelium) der Katholiken gegeben. Das wird eine spannende Frage, wie die Synode damit umgeht, wenn es in Sittenfragen begründete Vorbehalte gegen die Lehre gibt, die dem Glauben nicht widersprechen.
Die Lehre der Kirche bezüglich der Unauflösbarkeit der Ehe ist klar. Dennoch wird im Arbeitspapier auf die Praxis orthodoxer Kirchen verwiesen, wo eine Zweit- und Drittehe mit Bußcharakter möglich ist. Wohin kann das führen? Die Unauflöslichkeit der Ehe wird sicher nicht in Frage gestellt, sie ist ja biblisch fundiert. Es muss also darum gehen, Möglichkeiten zu finden, dem Wort Jesu treu zu bleiben, aber für wiederverheiratete Geschiedene Wege zu finden, sie wieder in die Sakramentengemeinschaft der Kirche voll einzugliedern. Den Weg der orthodoxen Kirchen als Vorbild zu studieren, wurde schon auf der Familiensynode 1980 vorgeschlagen. Aber im Dokument danach („Familiaris consortio“) wird darauf nicht mehr Bezug genommen. Dass das jetzt wieder ins Spiel gebracht wird, ist bemerkenswert.
Die Enzyklika „Humanae vitae“ wird im Arbeitspapier als prophetisch bezeichnet. Von einer Überprüfung der dortigen Regeln zur Empfängnisverhütung, die bei der Veröffentlichung 1968 umstritten waren, ist nicht die Rede. Wäre das nicht nötig, wenn Menschen vor dem Gewissen verantwortet in der Empfängnisregelung andere Wege gehen, wie das Arbeitspapier schreibt? Man darf „Humanae vitae“ erstens nicht auf die Frage der Empfängnisregelung reduzieren. Und zweitens darf man die Empfängnisregelung nicht auf die Frage zwischen natürlicher und künstlicher Methode reduzieren. Die Synodenväter könnten deutlicher herausarbeiten, warum die Kirche „Humanae vitae“ für prophetisch hält. Und sie müssen sich die Frage stellen, wie man mit jenen umgeht, die auf verantwortete und begründete Weise in der Empfängnisregelung einen anderen Weg einschlagen. Bisher hieß es: Künstliche Empfängnisregelung ist in sich schlecht, immer und überall abzulehnen, weil sie von der Kirche als objektiv schwere Sünde angesehen wird. Dass diese Antwort nicht ausreicht, lese ich aus dem Arbeitspapier schon heraus.
Das Papier betont die Verantwortung des Vaters bei Kindererziehung und Hausarbeit: Haben neue Geschlechterrollen die Kirche erreicht? Hoffen wir, dass das angekommen ist. Das Arbeitspapier geht auch auf die Gender-Theorie (Geschlechter-Theorie) ein. Leider geschieht das meines Erachtens viel zu undifferenziert, weil die Theorie pauschal als Ideologie gebrandmarkt wird. Natürlich gibt es Auswüchse, wo es im Extremfall heißt, das soziale Geschlecht sei vom biologischen abgekoppelt. Aber ich würde mir wünschen, dass die Synodenväter das, was die Genderforschung positiv einbringt, aufnehmen können und nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.
Wird zu Recht viel von den Synoden erwartet? Schrauben wir die Erwartungen zurück! Wo sie besonders hoch sind, besteht die Gefahr der Enttäuschung und des Frusts. Ich persönlich erwarte nicht, dass die Synode die Lehre der Kirche verändert, aber dass man schon versucht, auf die Fragen so einzugehen, dass man nicht die alten Antworten gibt, bzw. dass man auf die schwierigen Situationen der Familien so eingeht, dass man Lösungen findet, die diesen oft komplexen Umständen gerecht werden. Das sind wir den Menschen schuldig, das ist auch Auftrag des Evangeliums. Da erhoffe ich mir Flexibilität und Lebensnähe.