„Als Radfahrer fällt man in der Türkei extrem auf. Ständig wird man eingeladen, weil alle wissen wollen, wer der Verrückte ist. Damit ist man aber schon mit den Leuten im Gespräch“, erzählt Sepp Gruber. Der St. Pöltner Betriebsseelsorger war fünf Wochen im Südosten der Türkei auf den Spuren der syrischen Christen, der Aleviten, Armenier und Kurden unterwegs.
Das Zauberwort heißt „güzel“, das türkische Wort für schön. Das war das Erste, was die Leute wissen wollten: Wie es mir hier gefällt, sagt Sepp Gruber: „Ich habe wirklich mit voller Überzeugung ,güzel‘ gesagt: Die Bergketten, die Hochebenen, die Moscheen und Kirchen sind beeindruckend.“ Genau 2150 Kilometer hat er von 11. April bis 13. Mai 2015 im Osten und Südosten der Türkei mit dem Fahrrad zurückgelegt. Die Gastfreundschaft, die Hilfsbereitschaft und die Offenheit der Menschen waren einfach schön, aber Gruber hat auch weniger schöne Seiten des Landes erlebt: „Man kann sich nicht vorstellen, wie feindlich die muslimische Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten eingestellt ist.“ Radikale türkische Nationalisten und radikale sunnitische Muslime beherrschen die öffentliche Meinung und verbreiten ein Klima, das es ratsam scheinen lässt, sich zu ducken. In der Stadt Malatya gab es eine lebendige evangelische Gemeinde mit hundert Mitgliedern. Seit 2007 zwei ihrer Pastoren und ein englischer Christ erschossen wurden, hat sich die Gemeinde zerstreut. Bis heute wagen es nur mehr wenige, sich zu treffen – und das nur an wechselnden Orten. In Adiyaman war Gruber bei dem syrisch-orthodoxen Bischof Gregorius Melki Ürek zu Gast. Auch er agiert sehr vorsichtig. So sagt er nie, in welchen Ort er fährt. Er lässt bei seinen Mitarbeitern lediglich eine Entfernungsangabe zurück. Gleichzeitig sieht der Bischof die Zukunft vorsichtig optimistisch: „Wir sind als Christen nicht unbedingt beliebt, aber die Regierung gibt uns doch Möglichkeiten. Man braucht aber einen langen Atem.“ Die Lage ist nicht einfach schwarz-weiß zu beurteilen. Es scheint nicht nur eine Ablehnung, sondern auch ein unübersehbares Interesse am Christentum zu geben, ist dem Theologen und Pastoralassistenten Gruber aufgefallen: Er traf auf muslimische Schülerinnen, die sich in Adiyaman die Kirche anschauen wollten. Und beim Ostergottesdienst in Mardin waren ein Drittel der Kirchenbesucher Muslime. Sie standen im hinteren Teil des Gotteshauses und haben sehr interessiert an der zwei Stunden dauernden Liturgiefeier teilgenommen.
Im Tur Abdin
Seine Radtour führte Gruber auch in den Tur Abdin, das Kerngebiet der syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei. Dort hat er neben „güzel“ ein zweites Wort verwendet, das Türen öffnete, und zwar den Namen Professor Hollerweger. Auf einer Studienfahrt lernte der Linzer Liturgiewissenschafter Prof. Hans Hollerweger 1989 die verzweifelte Lage der Christen im Tur Abdin kennen. Er begann in den christlichen Dörfern, die zwischen der türkischen Armee und den kurdischen PKK-Kämpfern zerrieben wurden, zu helfen. Hollerweger gründete das Hilfswerk „Freunde des Tur Abdin“ und später die ICO – Initiative Christlicher Orient. Um die alte Jakobskirche zu sehen, ist Gruber ins Dorf Derkube gefahren, genauer: Er schob sein Rad die nicht asphaltierte Straße den Berg hinauf. Vier Familien wohnen dort und betreiben Landwirtschaft. Als ihn eine syrische Frau, die aus Deutschland wieder in ihre Heimat gezogen war, fragte, woher er komme, antwortete er: aus St. Pölten. Das liegt zwischen Linz und Wien. Linz – das kennen hier doch alle. Dort wohnt „Father Hollerweger“, sagt die Frau freudestrahlend. Unverzüglich kam, wer zu Hause war, um ein Erinnerungsfoto zu schießen. Gruber, der eine Reihe von Stätten im Tur Abdin besucht hat, resümiert: „Ich bin beeindruckt, wie nachhaltig Prof. Hollerweger dort geholfen hat.“