Protest in den Niederlanden gegen Störung der Sonntagsruhe.
Ausgabe: 1998/36, Niederlande
01.09.1998 - Agnes Grond
Wer einen Niederländer fragte, wie es ihm geht, erhielt lange Zeit als Antwort: „Gut“. In neun von zehn Fällen sagt er heute: „gestreßt“. Aber er meint dasselbe. Denn wer unter Streß steht, ist wichtig, zeigt, daß er der Schicht der Berufstätigen angehört und jemand ist. „Ik ren, dus ik bin“ – „ich rase herum, also bin ich“ – lautet der vielsagende Titel eines neuerschienenen Buches über den Lebensstil in den Niederlanden.Die sozial-liberale Koalition, die seit vier Jahren in den Niederlanden regiert, verfolgt das Motto: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Und es hat Frucht getragen. Den Niederlanden geht es wirtschaftlich gut – die Menschen verdienen und kaufen wieder mehr. Und was keine christdemokratische Regierung vorzuschlagen gewagt hatte, ist passiert: Das Ladenschlußgesetz wurde gekippt. Lieber ins MöbelhausHeute dürfen Geschäfte 16 Stunden täglich und auch an einigen Sonntagen geöffnet sein. Und die Konsumenten nehmen das auch andstandslos in Anspruch. Viele gehen sonntags lieber ins Möbelkaufhaus– „funshopping“ wird es genannt – als in die Kirche. Und genau das bekam ein Wald-und-Wiesen-Pfarrer in den falschen Hals. Er begann eine Protestbewegung gegen die Störung der Sonntagsruhe. In nur wenigen Monaten ist sie in einen breiten Protest von 21 christlichen und jüdischen Kirchen sowie 20 gesellschaftlichen Organisationen gegen die Einführung der sogenannten 24-Stunden-Wirtschaft ausgewachsen. „Nimm Dir die Zeit zum Leben“ heißt das Motto der Bewegung, die innerhalb von nur zwei Monaten über 800.000 Unterschriften beunruhigter Bürger sammelte und eine breite gesellschaftliche Diskussion vom Zaun brach.Die Kirchen beunruhigte nicht nur das Verschwinden der Sonntagsruhe und der Rückgang des Kirchenbesuchs, sondern vielmehr die Entwicklung einer Kultur, in der die Wirtschaft das letzte Wort hat. Eine Kultur, in der wirtschaftliches Wachstum und Hektik verherrlicht, Muße als verdächtig und geduldige Menschen als „Verlierer“ betrachtet werden. Das schade dem einzelnen Menschen und noch mehr dem sozialen Gefüge, meinen die Kirchen. Eine 24-Stunden-Wirtschaft erwartet von ihren Arbeitnehmern eben Flexibilität beim Arbeitseinsatz. „Es droht die Gefahr, daß wir einander nur noch auf der Treppe begegnen“, sagt Lodewijk de Waal, Vorsitzender einer der größten Gewerkschaften des Landes. Ein neuer LebensstilAber die Menschen wollen es doch selber, sagen die Befürworter. Und tatsächlich: die meisten schätzen es, abends noch ihr Brot und ihre Flasche Milch einkaufen zu können. Aber dann entscheidet eben der Arbeitgeber, wann sie eingesetzt werden – und das wird als weniger angenehm empfunden. Gleitende Arbeitszeiten durchkreuzen immer öfter die Momente, die von jeher für Familie, Verwandte und Freunde, die Kirche oder Vereine reserviert wurden.Die 24-Stunden-Wirtschaft ist nicht nur ein System von verlängerten Öffnungszeiten, flexiblen Arbeitszeiten. Es ist darüber hinaus ein Lebensstil und eine Kulturform, in der persönliche Beziehungen von instrumentellen Beziehungen abgelöst und ersetzt werden. Soziale Netzwerke haben in dieser Wirtschaftsform immer weniger Chancen. Kardinal Simonis, Erzbischof von Utrecht: „Eine Gesellschaft, die sich um den Rhythmus der Jahreszeiten, von Tag und Nacht, von Arbeit und Ruhe nicht kümmert, verliert die Intuition einer geschenkten Wirklichkeit. Dann verlieren Menschen nicht nur die Sicht auf Gott, sondern sie verlieren auch einander und sich selbst.“800.000 UnterschriftenGemeinsam mit Pfarrer Bas Plaisier, dem Generalsekretär der evangelischen Landeskirche in den Niederlanden, überreichte Kardinal Simonis Ende Juni die 800.000 Unterschriften dem niederländischen Finanzminister. Sie nagelten außerdem – „wie ein moderner Luther“, sagte der Kardinal – sieben Thesen an die Türe des Ministeriums (siehe Kasten) und baten die Regierung um eine korrigierende Volksabstimmung. „Wir verhandeln in den Niederlanden manchmal zu viel über Flugplätze, Straßen und Gehaltsauszüge und zu wenig über die Einrichtungen der Gesellschaft“, sagte Finanzminister Gerrit Zalm, als er die Unterschriften entgegennahm. Es ist allerdings sehr fragwürdig, ob er, selbst Musterbeispiel eines dynamischen, hektischen Menschen, mit dem Protest etwas ausrichten wird. Die gesellschaftliche Diskussion kann er jedoch nicht mehr aufhalten.Glaube an die WirtschaftDie Bewegung gegen die 24-Stunden-Wirtschaft hat eine Diskussion über das Menschenbild ausgelöst: Ist Leben nur Produktion und Konsum? Reicht es, pausenlos einkaufende Verbraucher oder allzeit bereite Arbeitskräfte zu sein? „Wer die Abhängigkeit des Menschen als Ausgangspunkt nimmt und es für wesentlich hält, daß der Mensch mit anderen verbunden ist und nicht nur auf sich selbst bezogen, der spürt, daß vom 24-Stunden-Menschen ein Teil der Existenz unter den Teppich gekehrt wird“, sagt Betriebsseelsorgerin Esther van der Panne. „Was in einer 24-Stunden-Wirtschaft für wertvoll und heilig erklärt wird, entspricht das tatsächlich dem, was ich für das Wertvollste halte?“Dem Bemühen der Kirchen zufolge wird jetzt überlegt, inwieweit Wirtschaft auch eine Sache des Glaubens ist und ob eine 24-Stunden-Wirtschaft sich nicht allzu weit entfernt vom verheißenen Land, von dem Bibel und Tradition sprechen. Arbeiterseelsorger erstellen gegenwärtig ein Projekt, das in den kommenden vier Jahren diese Fragen zum Schwerpunkt innerhalb der Kirchen in den Niederlanden machen soll. Und die Forderung der Kirchen nach einer Volksabstimmung über die 24-Stunden-Wirtschaft hält die Frage vorläufig auch auf der politischen Tagesordnung.Dem Minister an die Tür genageltu Kollektive Ruhetage sind die Grünstreifen in unserem Zeiterleben.u Eine 24-Stunden-Wirtschaft macht den Menschen zum Sklaven wirtschaftlicher Interessen.u Eine 24-Stunden-Wirtschaft stört den menschlichen und natürlichen Biorhythmus.u Ohne gemeinsame Freizeit ist jeder alleine.u Der kollektive Verzicht auf Regelarbeitszeiten macht die Niederlande krank.u Eine 24-Stunden-Wirtschaft durchkreuzt traditionelle Normen und Werte.u Menschen haben ein Recht darauf, ihren Gottesdienst gemeinsam zu erleben und zu feiern.