SOS-Kinderdorf-Gründer Hermann Gmeiner über die Kraft der Liebe
Ausgabe: 1999/26, Hermann Gmeiner
29.06.1999 - Kirchenzeitung der Diözese Linz
Vor 50 Jahren eröffnete Hermann Gmeiner in Imst das erste SOS-Kinderdorf. Die „Philosophie“ des Bauernsohnes aus dem Bregenzer-Wald war die praktizierte Liebe. Sie ist der Geist, der ein weltumspannendes Hilfswerk entstehen und es in so vielen verschiedenen Kulturen heimisch werden ließ. Dazu schreibt Gmeiner.
Liebe ist so viel! Sie ist eine Macht, die uns beherrscht. Sie ist eine Kraft, die uns bewegt. Sie ist von Gott. In ihr ist uns Gott am nächsten, in ihr zeigt sich uns sein Antlitz am deutlichsten. Alles, was den Menschen menschlich macht und über das rein kreatürliche hinaushebt, alles Gutsein, Starksein und Schönsein kommt aus der Liebe.
Liebe befähigt auch unsere SOS-Kinderdorf-Mütter, sich verlassener, fremder, oft schwieriger, weil verstörter Kinder anzunehmen, als ob es ihre eigenen wären. Warum? Ihre Liebe ist Freude darüber, daß es diese Kinder gibt. Liebe ist Freude am Dasein des anderen. In dieser Freude ist jeder von uns, ist jeder Mensch auf der Erde mit dem anderen vereint und mehr, als er auf sich allein gestellt wäre. Meine Liebe ist meine Freude darüber, daß es dich meinen Bruder, meine Schwester auf dieser Welt und in meinem Leben gibt.
Liebe statt Krieg
Wir wissen, daß das alte geflügelte Wort „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ ein für alle Mal aus unserem Sprachschatz gestrichen gehört, weil der Krieg in Wirklichkeit ein erbarmungsloser Zerstörer der uns von Gott anvertrauten Welt ist. Und wir sind verpflichtet, der Jugend zu sagen, daß man an Kriege keinerlei schwärmerische Hoffnungen und Erwartungen knüpfen darf. Der Krieg ist das denkbar untauglichste Mittel zur Erfüllung irgendwelcher Träume. Hingegen dürfen wir uns, auf reiche Erfahrung gestützt, ohne Umschweife dazu bekennen, daß sich beim Wiederaufbau der vom Krieg zertrümmerten Welt am meisten die Liebe bewährt hat. Sie steht an der Spitze aller in unserem Dasein schöpferisch waltenden Kräfte.
Und ich glaube, daß die Liebe umso wirksamer wird, je größer wir den Kreis derjenigen ziehen, die wir als unsere Nächsten betrachten. Es ist nicht wahr, daß sich jeder selbst der Nächste ist, sondern es ist wahr, daß die Liebe zu den Menschen, die Liebe zu allen, die uns brauchen und auf die wir angewiesen sind, Licht ins Leben bringt.
Wenn wir unsere Kinder froh und glücklich machen wollen, müssen wir die Vorstellung vom unübertrefflichen Wert der allgemeinen, weltumspannenden Nächstenliebe tief in ihren Herzen verankern. Dies zu erkennen und zu wissen, ist mindestens so wichtig wie das Einmaleins und was sonst für das Leben nützlich ist. Die Jugend soll mitten in der Zeit stehen. Sie soll alles, was zur Welt von heute gehört, kennen, soll sich damit auseinandersetzen. Nur dürfen Autos und Fernsehen, Strahlen und Raketen, Karriere und Einkommen das Licht der Liebe nicht überschatten. Sie wird immer bleiben und jene Kraft sein, die tatsächliches – und nicht scheinbares – Glück und echtes Leben spendet. Das haben wir in Zeiten tiefster Bedrängnis erfahren. Sollte eine so kostbare Erfahrung verloren gehen?!
Stenogramm
- SOS-Kinderdorf ist ein privates, konfessionell und politisch unabhängiges Sozialwerk für verlassene und verwaiste Kinder. In Österreich gibt es neun SOS-Kinderdörfer, elf Jugendwohngemeinschaften sowie sechs therapeutische Einrichtungen. Weltweit wachsen über 45.000 Kinder und Jugendliche in über 350 SOS-Kinderdörfern in 131 Ländern auf.
- SOS-Kinderdorf beruht auf vier einfachen Prinzipien: Mutter, Geschwister, Haus (Familie), Dorf.
Ein Zuhause für die Kinder
Im Frühjahr 1949 ließ ein Innsbrucker Medizinstudent die „Societas Sozialis“ bei der Tiroler Sicherheitsdirektion ins Vereinsregister eintragen. 50 Jahre später schlug die österreichische Bundesregierung „SOS-Kinderdorf-International“ offiziell für den Friedensnobelpreis vor.Am 23. Juni 1919 wird Hermann Gmeiner in Alberschwende im Bregenzer-Wald geboren. Als er fünf ist, stirbt seine Mutter. Von da an nahm seine älteste Schwester Else ihre acht Geschwister unter ihre Fittiche. Diese Erfahrung hat Gmeiner zutiefst geprägt: aus Schwester Else machte er später das Herzstück seines Hilfswerkes, die SOS-Kinderdorfmutter.
Nach dem Krieg begann Hermann Gmeiner in Innsbruck mit dem Medizinstudium. „Wenn wir zusammengesessen sind, hat er immer wieder davon gesprochen, wie ihm die Kinder leid tun, die im Krieg ihre Eltern verloren haben“, erinnert sich Dr. Josef Jestl. Er kannte Gmeiner von der Pfarrjugend in Maria-Hilf und vom Medizinstudium. „Für diese Kinder ein eigenes Zuhause, eine neue Familie zu schaffen, war ganz allein dem Hermann seine Idee. Die meisten Leute, mit denen er darüber sprach, auch wir in der Jugend, fanden seine Vorstellungen interessant, aber kaum jemand glaubte daran, daß in den schweren Nachkriegsjahren daraus etwas werden könnte. Aber der Hermann war wie besessen davon und meinte immer, zuerst muß ich die Frauen für meine Idee gewinnen“, erinnert sich Dr. Jestl. Und sie waren es auch, die Gmeiner mit regelmäßigen Spenden (Slogan: ein Schilling im Monat) und mit ihrer Bereitschaft, Kinderdorf-Mütter zu werden, unterstützten.