Ein Beitrag zur Vorbereitung auf den 1. Ökumenischen Christentag
Ausgabe: 1999/40, Christentag
06.10.1999 - Kirchenzeitung der Diözese Linz
„Sonne der Gerechtigkeit“ ist das Motto für den ersten Christentag in Österreich. Ein altes Kirchenlied, das gar nicht harmlos ist, sondern ein bestürmender Anruf Gottes, das Gesicht der Kirche(n) und der Welt zu verändern.
In Ausformung seines Leitmotivs wurden für den Christentag vier inhaltliche Schwerpunkte gewählt, die bewusst die Anliegen der 2. Ökumenischen Versammlung in Graz aufgreifen:- Solidarität unter den Menschen; - Kein Friede ohne Gerechtigkeit; - Versöhnung der Kirchen; - Versöhnung der Völker.
Zur Vorbereitung auf den Christentag bringt die Kirchenzeitung Beiträge zu diesen vier Themen sowie ein „Ökumenisches Glaubensgespräch“ zum Sonntag.Meine ersten schrecklichen Erfahrungen mit der Solidarität habe ich im Alter von 17 Jahren gemacht. Es war eine protestantische Kirchengemeinde im Westen Kanadas, die einfach furchtbar solidarisch war. Die Jungen führten die Alten zur Kirche, die Frauen sammelten für die Armen und die Männer renovierten in ihrer Freizeit die Kirche. Der Pfarrer predigte über die Bekehrten und über die Ungläubigen, die seien „garbage“ (Mist). Gemeint waren die Indianer am Rande der Stadt. Da war’s aus mit der Solidarität.
Jeder ist für die „Solidarität“. Es bezieht sich nur jeder auf andere Gruppen – und das nicht nur im fernen Kanada. Es gehört zu den beliebten politischen Spielen, Gruppensolidaritäten aufeinander loszulassen. Singles gegen Mehrkindfamilien, Gastarbeiter gegen Arbeitslose, Junge gegen Alte, Versicherte gegen Nichtversicherte, so lauten die Paarungen, die man nach Bedarf ausspielen kann.Prof. Paul M. Zulehner und Hermann Denz haben in einer Studie herausgefunden, dass der Wunsch nach Solidarität in Österreich enorm ist. Ein Hoffnungsschimmer in einem Land, das andere Kommentatoren auf dem Weg zur entsolidarisierten Zweidrittelgesellschaft sehen und mit dem unschönen Bild der Wolfsgesellschaft umschreiben.
Tragfähig und wirksam sind die Netze der Solidarität laut der oben zitierten Studie in Österreich vor allem in der Familie, in den kleinen überschaubaren Lebenswelten. Wir unterscheiden uns da wenig von der zitierten puritanisch-kanadischen Kirchengemeinde. Je weiter die Solidarität reichen sollte, desto schwerer fällt sie. Solidarität wird also selektiv und sektorial gelebt. Die Autoren definieren Solidarität als „sich für die Verteilung von Lebenschancen stark machen“. Beschränkt sich dieses Starkmachen auf eine selektive Verteilungsgerechtigkeit, dann trägt sie schon den Keim der Entsolidarisierung in sich. Solidarität wächst nicht aus einem Kern in konzentrischen Kreisen hervor. Beschränkt sich Solidarität auf die Familie, dann ist auch der Schritt möglich, einfach ganz Österreich zur Familie zu erklären und zu schreien: „Österreich(er) zuerst!“
Man kann Gott auf vielerlei Weise suchen und natürlich auch auf vielerlei Weise finden. Aber irgendwo kreuzt dabei immer der Nächste auf – oder man ist auf dem falschen Weg. Der Mitmensch. An ihm führt kein Weg zu Gott vorbei. Josef Dirnbeck
Daß die Kirchen noch eines der effizientesten Netze gelebter Solidarität sind, ist für uns Christen eine sympathische Erkenntnis der Studie von Zulehner. Ob diese Erkenntnis den Kirchen wieder Ansehen zurückbringen wird, sei dahingestellt, als Zeichen der Zeit ist sie jedoch eher ein Alarmsignal. Wir sind längst noch nicht am Ende der Säkularisierung. Die Bedeutung der Kirchen wird weiter schwinden und mit ihr die Inseln gelebter Solidarität. Es wird entscheidend sein, ob es den Kirchen gelingt, auch über ihren Bereich hinaus zu vermitteln, dass Solidarität mehr sein muss als ein Interessenausgleich innerhalb bestimmter eng definierter Gruppen. Christliche Solidarität kann nur verstanden werden als Teilhabemöglichkeit aller an den Chancen, die diese Welt bietet, und an der Fülle der geschenkten Lebensmöglichkeiten. Teilhabe heißt auch den Reichtum zu teilen. Denn Gott lässt uns schließlich teilhaben an seiner ganzen Schöpfung und durch seine Menschwerdung an sich selbst. Solidarität, und damit der Friede, beginnt eben nicht in der Familie, sondern dort, wo die Familie beginnt, das ihre mit dem Fremden, der Not leidet, zu teilen.
Im Zentrum der Solidarität steht der Tisch des Herrn, zu dem alle geladen sind, aber ganz besonders die von den Hecken und Zäunen.
Pfarrer Mag. Michael Chalupka, Direktor der evangelischen DIAKONIE