11.04.2000 - Kirchenzeitung der Diözese Linz, Mona Müry-Leitner
Mein Staunen über die Kunstfertigkeit der Matthäuspassion erschöpft sich nicht mit der Zeit, es wächst mit ihr. Bach beherrscht die Kompositionstechnik so souverän, dass er sich erlauben konnte, seine Musik in spielerischer Lust mit einer Überfülle von Andeutungen, Tonmalereien und Zahlenrätseln zu durchsetzen. Eine bestimmte Anzahl von Tönen und Tonhöhen etwa zeigt zitierte Bibelstellen an. Die 30 Thaler, die Judas erhält, werden im Duett der Hohen-priester „Es taugt nicht, dass wir sie in den Gotteskasten legen“ symbolisch ausgezählt: bis zum Wort „legen“ spielt der Bass exakt 30 Töne, erst dann singen die Hohenpriester weiter. In dem bangen kurzen Chor „Herr, bin ich’s?“ nach Jesu Vorraussage des Verrats kommt das Wort „Herr“ elfmal vor; alle elf Jünger fragen, Judas – der Täter – schweigt.
Auffallend ist ferner, dass unter den Rezitativen einzig die Jesus-Rezitative von einem weichen Streicherklang umspielt sind – eine Art instrumentaler Heiligenschein. Nur ein Jesuswort, das allerletzte, „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ hat diese Aureole nicht. Ein und denselben Chorsatz verwendet der Komponist – mit minimalen melismatischen (verzierenden, ausschmückenden) Veränderungen – gar viermal. Bis zum Tod Jesu setzt er ihn jedes Mal einen Ton tiefer.
Selbst die Naturgewalten werden in eine Klangsprache gebracht, etwa in dem schauerlichen Chor „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden“ oder unmittelbar nach Jesu Tod in „Der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stück, die Erde erbebete und die Felsen zerrissen…“. Die furiosen Auf- und Abbewegungen von den tiefsten in die höchsten Lagen und wieder zurück zeigen überdeutlich an, dass alles aus den Fugen geraten ist.
Wenn die Natur diesen Tod so aufwendig kommentiert, wird damit die wichtigste Aussage der ganzen Passion vorbereitet: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ Nur das Genie kann sich eine derartige Reduktion leisten: Bach genügen drei unvergleichliche Takte dafür. In die Bass-Stimme dieses kurzen Chores hat Bach auch sein Glaubensbekenntnis eingebracht, wiederum mit einem Zahlenspiel. Die 14 Töne ergeben die Zahlensumme der seinem Namen zugehörenden Buchstaben im Alphabet: B = 2, A = 1, C = 3, H = 8.