Die Pleite der Handelskette „Zielpunkt“ hat ein Thema wieder in die öffentliche Wahrnehmung gerückt: Arbeitslosigkeit. Dabei hatte Österreich mit 430.107 beim Arbeitsmarktservice vorgemerkten Menschen (70.814 davon in Schulungen) auch ohne die „Zielpunkt“-Misere einen Negativrekord erreicht. Besonders dramatisch ist die Entwicklung bei den langzeitarbeitslosen Menschen.
Ausgabe: 2015/50, arbeitslos, AMS, Flüchtlinge
09.12.2015
Franz R.* ist einer von rund 47.800 Menschen in Österreich, die länger als zwölf Monate arbeitslos sind und daher als langzeitarbeitslos gelten. Wie lange er konkret schon ohne bezahlte Beschäftigung ist, möchte er nicht sagen. Aber er erzählt, wie es begann: „Ich hatte stets auf Basis befristeter Verträge gearbeitet. Bevor ich an einem Montag mit der nächsten Beschäftigung beginnen sollte, wurde sie mir am Freitag abgesagt. Seitdem hat sich in diesem Bereich und auch in anderen nichts mehr ergeben.“ Während die generelle Arbeitslosigkeit im November im Vergleich zum November 2014 um 5,6 Prozent gestiegen ist, hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen von 16.500 auf 47.800 fast verdreifacht. Vor allem ältere, gesundheitlich beeinträchtigte und gering qualifizierte Personen seien davon betroffen, heißt es. Für Christian Winkler von der Bischöflichen Arbeitslosenstiftung in Linz hängt die Entwicklung unter anderem mit der Pensionsreform, insbesondere mit der Abschaffung der Invaliditätspension, zusammen: Wer früher vorzeitig in Pension gehen konnte, bleibt nun länger arbeitslos. An geringer Qualifikation kann es bei Franz R. nicht liegen: Er hat einen Lehrberuf abgeschlossen und später studiert. Offenbar ein Problem sind aber sein Alter (Mitte 50) und mittlerweile auch die Dauer der Arbeitslosigkeit: „Es ist mir schon passiert, dass ein Bewerbungsgespräch zu Ende war, als angesprochen wurde, dass ich schon länger arbeitslos bin“, erzählt er. Franz R. bemüht sich weiterhin um einen Job, aber seine Erfahrung ist: Man muss froh sein, wenn man wenigstens eine Absage bekommt.
Ängste
Mit der Arbeitslosigkeit kämen auch Existenzängste, berichtet Franz R. Er habe einst gut verdient, nun lebe er von der Notstandshilfe, die nach dem Arbeitslosengeld zum Zug kommt und deren Höhe vom letzten Lohn abhängig ist. Im österreichischen Durchschnitt liegt sie zwischen 700 und 800 Euro im Monat. Das Einkommen eines Partners mindert die Zahlung, was zu schwierigen Situationen in Familien führen kann. Eine Hilfe, mit der neuen Situation umzugehen, war für Franz R. ein Haushaltsbuch und die Frage: „Was brauche ich wirklich?“ Geholfen haben ihm auch sein ehrenamtliches Engagement sowie Sport und Bewegung in der Natur: „Das ist ein gutes Mittel, um Depressionen vorzubeugen.“ Einem Freund von R. erging es anders: „Ihm wurde mit 55 Jahren überraschend gekündigt und stand bis zu diesem Zeitpunkt voll in der Arbeit. Ihm geht es schlecht.“ „Arbeitslos zu sein ist für viele Betroffene purer Stress“, sagt Christian Winkler von der Arbeitslosenstiftung. Vor allem bei Langzeitarbeitslosen sei der Druck sehr hoch. Dass jetzt verschärfte Regelungen bei der Mindestsicherung diskutiert werden, die es ohnehin nur bei Erfüllung harter Auflagen gibt, kritisiert Winkler: Das erhöhe nur den Druck, ändere aber nichts an der Situation. Man könne die gleichzeitig steigenden Zahlen bei den Beschäftigten nicht als eine rein positive Entwicklung sehen: „Die Steigerung kommt durch mehr Teilzeitjobs zustande. Nur gibt es neben einem Teil von Menschen, die Teilzeitstellen suchen, auch Menschen, die mehr Arbeit wollen oder brauchen. 2013 waren das laut Studien rund 178.000 Personen“, sagt Winkler. Für Franz R. wäre es wichtig, überhaupt Arbeit zu finden. Schwer erträglich ist für den gut Ausgebildeten freilich die Vermittlung auf dem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt. Das sind befristete Arbeitsplätze, die durch staatliche Förderung für arbeitsmarktferne Menschen geschaffen werden und oft aus sehr einfachen Tätigkeiten wie dem Sortieren von Kleidern bestehen. Insgesamt sagt R., man fühle sich an vielen Stellen wie ein Bittsteller.
Flüchtlinge
Die Flüchtlinge, die heuer nach Österreich gekommen sind, betrachtet Franz R. mit gemischten Gefühlen. Er sieht die einzelnen Schicksale, aber auch ihre große Zahl. Jene die bleiben dürfen, werden auf den österreichischen Arbeitsmarkt kommen und dort die Situation ganz sicher nicht einfacher machen. Christian Winkler verweist darauf, dass ein Teil der Flüchtlinge wenig qualifiziert ist und es auf der anderen Seite schon bei der bisherigen Migration Menschen gab, die für die Jobs, die sie bekamen, überqualifiziert waren. „Arbeit ist zweifellos sehr wichtig für die Integration. Wir müssen uns aber fragen, ob wir da nicht den flüchtenden Menschen Hoffnungen machen, die wir nicht erfüllen können.“ Wenig erwartet sich Winkler von der Bevölkerungsentwicklung: Dass ab 2020 die Zahl der Menschen im Erwerbsalter so stark sinken wird, dass es kaum mehr Arbeitslosigkeit geben wird, wie manche Experten sagen, glaubt er nicht. Und was ist dann die Lösung? Wie der Linzer Bischof Ludwig Schwarz und die Arbeiterkammer bei einer Pressekonferenz vergangene Woche, so ist auch Winkler für eine bessere Verteilung der Arbeit – zwischen den Menschen, die zu viel arbeiten, und jenen, die keine Arbeit haben. Klar ist, dass das derzeit kaum durchsetzbar ist: Die Arbeiterkammer tritt auf der einen Seite für eine Beschränkung der Überstunden als ersten Schritt ein: In Österreich seien im Jahr 2014 rund 269 Millionen Über- und Mehrarbeitsstunden geleistet worden, rein rechnerisch seien das 130.000 Vollzeitjobs, heißt es. Doch die Industriellenvereinigung auf der anderen Seite ist für eine weitreichendere Arbeitszeitflexibilisierung und eine erweiterte tägliche Höchstarbeitszeit bei Gleitzeitvereinbarungen. Verstärkte Regulierungen seien „kontraproduktiv“, heißt es. Und Franz R.? Er hält viel davon, Arbeit besser zu verteilen und vor allem neue Beschäftigungsformen und -felder zu fördern bzw. zuzulassen. Aber er sagt, dass das nicht einfach ist. Heute ist ihm vor allem wichtig, dass man arbeitslosen Menschen nicht mit Vorurteilen begegnet, sondern vor allem ihren starken Willen, wieder Arbeit zu bekommen, würdigt und unterstützt.
Unter diesem Motto engagiert sich eine Gruppe von Personen in Oberösterreich, die Erfahrungsberichte von arbeitslosen Menschen sammelt. Daraus werden Forderungen entwickelt und an die Öffentlichkeit gebracht. Es geht unter anderem um die Schaffung einer Interessenvertretung. „Selbstermächtigung bedeutet, dass wir uns als Betroffene selbst für unsere Interessen einsetzen, anstatt darauf zu warten, dass es andere für uns tun“, heißt es aus der Gruppe. Von der Politik fordert sie, dass das Arbeitslosengeld erhöht wird, dass das Partner/inneneinkommen bei der Notstandshilfe nicht mehr angerechnet wird, eine gesetzliche unabhängige Arbeitslosenanwaltschaft, die Abschaffung von Bezugssperren und dass die Entscheidung über Aus- und Weiterbildung bei den Betroffenen selbst liegt. Damit will die Gruppe eine „dauerhaft gesicherte Lebensgrundlage“ und ein Ende der Diskriminierung von Menschen ohne bezahlter Arbeit. Interessenten für eine Mitarbeit sind zur Teilnahme eingeladen.
E-Mail: arbeitslos.selbstermächtigt@speed.at; auf Facebook unter arbeitslos.selbstermächtigt