Das Schweigen und das Gebet zählen für Karmelitinnen zu den wichtigsten Aufgaben des Tages. Darüber hinaus macht sie der Ort sensibel für Intoleranz, die heute geschieht.
Orte können im guten wie im schlimmen Sinn eine Ausstrahlung haben, die sonst nirgendwo zu finden ist. Was bedeutet es also, wenn Menschen sich an einen „schrecklichen Ort“ binden für ein Leben der Kontemplation und der Fürbitte? Zwischen der Berufung im Karmel und einem Ort unsagbarer Schuld und unbeschreiblicher Leiden besteht ein enger Zusammenhang. Thérèse von Lisieux hat darum gewusst und sie in ihr Leben integriert.
Ein unauffälliger Ziegelbau neben dem Gefängnis Plötzensee ist es, in dem während der Nazi-Diktatur fast 3000 Menschen aus 19 Nationen hingerichtet wurden durch das Fallbeil oder den Strang. Die meisten hatten in irgendeiner Form gegen das Unrechtssystem Widerstand geleistet. Am bekanntesten wurde das missglückte Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944. Hunderte wurden daraufhin verhaftet, gefoltert und hingerichtet, die meisten in Plötzensee.
Für alle Märtyrer
Eine halbe Stunde Fußweg von diesem Ort entfernt liegt die katholische Gedenkkirche Maria Regina Martyrum. Das zu Ehren der „Blutzeugen für Glaubens- und Gewissensfreiheit in den Jahren 1933–1945“ errichtete Gotteshaus wurde 1984 zur Klosterkirche des neuen Karmels. Hier beten die Schwestern das Chorgebet und feiern den Gottesdienst. „Allen Martyrern, denen das Grab verweigert wurde, allen Martyrern, deren Gräber unbekannt sind“, lautet die Inschrift zu Füßen der mächtigen Pietà.
Ökumenische Beziehungen haben sich als ungemein fruchtbar erwiesen. Monat für Monat findet in der Krypta gemeinsam mit der evangelischen Nachbargemeinde ein Friedensgebet statt. Und am 20. Juli laden die Karmelitinnen zur ökumenischen Vesper und zur Begegnung an der Klosterpforte ein. Ökumenisch teilen sie auch das Bewusstsein, dass unter Christen das Vergessen nicht um sich greifen darf. Und sie teilen die Verantwortung, noch lebende Überlebende des Nazi-Terrors wahrzunehmen und ihnen ihr Ohr und Herz zu öffnen. Denn noch immer gibt es Menschen, die mit dem Trauma ihrer KZ-Erfahrung leben und es nicht vermocht haben, darüber zu sprechen. Und es gibt die Kinder der Opfer – auch sie sind traumatisiert vom unausgesprochenen Schicksal ihrer Eltern.Im Norden Berlins liegt Ravensbrück, das einzige Frauenkonzentrationslager der NS-Zeit. Trotz der Entfernung ist es ein wichtiger Ort für die Schwestern im Karmel geworden. Sie sind den Weg nach Ravensbrück mitgegangen, als ehemalige Häftlinge und deren Kinder es zum ersten Mal wagten, um endlich Frieden zu finden. Zwei von ihnen, eine Polin und eine Niederländerin, wohnten im Karmel Regina Martyrum und sind mehrfach wiedergekommen. Dass sie sich hier geborgen fühlen können, war für beide wichtig im Prozess der Versöhnung mit den Deutschen, vielleicht auch mit Gott.
Ausgangsort des Unheils
Der Karmel befindet sich zwar nahe der ehemaligen Hinrichtungsstätte. Aber er ist auch wieder so weit entfernt, dass man den Zusammenhang nicht mehr sehen muss. Das erleichtert manchen den Besuch. Vielleicht hat diese Lage dazu beigetragen, dass die Schwestern in Berlin Kontakte zu Juden fanden – besser umgekehrt, weil sie in der Regel das Kloster ja nicht verlassen. Diesen Kontakten, aus denen sich auch freundschaftliche Beziehungen entwickelt haben, verdanken die Frauen viel: eine vertiefte Auseinandersetzung mit Fragen des Antisemitismus, aber auch der rabbinischen Schrifterklärung. Vor allem aber immer wieder diese eine Frage: Was heißt es in Berlin, von wo das Unheil seinen Ausgang nahm, wo die „Endlösung“ beschlossen wurde und von wo die Deportationszüge Richtung Osten rollten – was heißt es, hier ein Leben des Gebetes und der Fürbitte zu führen? Im Karmel der Großstadt leben Frauen, die trauern und mittrauern, die sich aber auch freuen und mitfreuen können. Sie sind keine Einzelgängerinnen, sondern sie leben in Gemeinschaft. In einer Erfahrung von gelingender und versagender Liebe, von Mangel und Reichtum und von einem tragenden Grund für alle und jede. So kann eine Gemeinschaft, die selbst getragen ist, ein Leben an Orten ermöglichen, dem die Einzelne nicht gewachsen wäre.
Konkret:
Leserreise
Vom 24. bis 29. September veranstaltet die Kirchenzeitung eine Reise, bei der ein Besuch im Karmel geplant ist. Dr. Manfred Scheuer (Diözesanbeauftragter für die Seligsprechung von Franz Jägerstätter) und Dr. Erna Putz (Jägerstätterbiografin) begleiten die „Spurensuche“ nach Zeugen des Glaubens und des Widerstandes in Berlin, Brandenburg/Havel und Kreisau (Polen). Kosten pro Person: 6.880.– Schilling
Weitere Informationen: Kirchenzeitung-ReiseserviceKapuzinerstr. 84, 4020 Linz.Tel. o7 32/76 10-39 63