Trotz der politischen Kälteperiode zwischen dem Westen und Russland entscheiden sich immer mehr junge Menschen für ein Studium im Riesenreich.
Ausgabe: 2015/52, Studium, Rossbach, Shimf, Ousmanova, St. Petersburg, Russland, Auslandssemester
22.12.2015 - René Jo. Laglstorfer
„Für jemanden aus dem Westen ist es hart, in Russland zu studieren, man braucht viel Courage“, sagt Julia Shimf. Die 27-jährige Russin hat in der sibirischen Millionenstadt Omsk Kommunikation studiert und kennt das russische Bildungssystem genau: „Es ist berühmt dafür, dass es immer nur eine richtige Antwort gibt, vor allem wenn der Professor in der Sowjetzeit ausgebildet wurde. Ich finde, im Westen ist das anders: Studierenden wird beigebracht zu diskutieren, kritisch nachzudenken und zu argumentieren.“ Aus diesem Grund hat sie sich entschieden, ein englischsprachiges Doppel-Programm in Berlin und St. Petersburg zu absolvieren – trotz der aktuellen Kälteperiode zwischen Europa und Russland.
Schwierige Sprache
Einer ihrer Studienkollegen ist Andreas Rossbach aus Bayern. Der 26-Jährige wurde in St. Petersburg geboren, wo sich seine Eltern kennenlernten. Obwohl Rossbach mit der russischen Sprache aufgewachsen ist, könnte er sich nicht vorstellen, ein Vollzeit-Studium auf Russisch zu absolvieren. „Ich bin nie in Russland zur Schule gegangen und die russische Sprache ist eine der schwierigsten der Welt. Im Russischen gibt es zehn Mal so viele Ausnahmen wie Regeln.“ Für den Deutsch-Russen Rossbach ist die Stimmung in Russland gegenüber Leuten aus dem Westen ein zweischneidiges Schwert: Einerseits sei Interesse und Neugierde da. „Andererseits erntet man auch Verwunderung und Unverständnis, warum man als ‚Westler‘ ausgerechnet nach Russland zum Studieren geht.“
Bessere Qualität im Westen
Laut einer Studie der UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) zieht es seit 2008 jedes Jahr etwa 1300 junge Menschen aus dem Westen für ein Studium nach Russland. Aber schreckt wirklich nur die schwere Sprache ab, in Russland zu studieren? „Viele westliche Universitäten haben eine viel höhere Qualität, was die Ausbildung anbelangt. Deshalb kommen relativ wenige Menschen aus dem Westen zum Studium nach Russland“, sagt Mikhail Bonovsky. Der 24-Jährige hat einen ukrainischen Vater und eine russische Mutter und ist ab dem zwölften Lebensjahr in den USA aufgewachsen. Nachdem er in New York und in seiner Geburtsstadt Moskau einen Bachelor in „Internationale Studien“ absolvierte, arbeitete er vier Jahre für das Institute of International Education (IIE) in New York. Dort hat er sich intensiv mit der Mobilität von internationalen Studierenden beschäftigt: „Russland zieht eine Menge Studenten aus den früheren Sowjetrepubliken an“, sagt der amerikanische Bildungsexperte mit russisch-ukrainischen Wurzeln.
Attraktives Russland
Tatsächlich kommen knapp 100.000 Studierende in Russland aus Zentralasien und Osteuropa, das sind rund 73 Prozent aller ausländischen Studenten. Für viele Menschen aus Asien, den Ex-Sowjetrepubliken, aber auch aus Afrika bedeutet ein russischer Studienabschluss ein viel höheres Prestige als eine heimische Ausbildung. Mehr als drei Mal so viele Afrikaner wie Westeuropäer und Nordamerikaner kommen laut UNESCO für ein Studium nach Russland. Das bestätigt auch die Afro-Russin Nicole Ousmanova: „Russland vergibt immer noch viele Stipendien an – sagen wir – unterentwickelte Länder. Aus der Sicht eines Afrikaners ist die Wahl zwischen einem nationalen Hochschulabschluss und einem russischen nicht schwierig. Denn für ihn ist Russland der Westen. Und ein Diplom aus einem ‚weißen Land‘ ist in Afrika einfach mehr wert und erhöht die Chancen, einen Job zu finden“, sagt die 22-Jährige, deren togolesischer Vater einst selbst mit einem Stipendium an die Moskauer Universität für Völkerfreundschaft kam, wo er Ousmanovas Mutter kennenlernte und wo bis heute Menschen aus mehr als 140 verschiedenen Nationen studieren.
Offene Studenten
In Russland geboren, aber in Togo aufgewachsen, entschied sich Ousmanova, nach einem Bachelor an der Pariser Sorbonne für ihren Master nach Russland zu gehen. „In Togo bin ich ‚die Weiße‘. In Russland werde ich wegen meiner hellbraunen Haut als schwarze Ausländerin angesehen, obwohl ich fließend Russisch spreche und eben auch Russin bin.“ Dennoch findet sie, dass die meisten russischen Studenten Ausländern offen und hilfsbereit gegenüberstehen.
Teure Unis
In Russland verlangen die Hochschulen Studiengebühren. Je nach Fachrichtung und Hochschule liegt die Gebühr für ein Studienjahr bei etwa 1.000 bis 2.500 Euro, was bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von rund 400 Euro für gewöhnliche Russen viel Geld ist. Beim Doppelmaster-Programm in St. Petersburg und Berlin betragen die Studiengebühren rund 1.150 Euro pro Semester.