„Ich seh, ich seh, was du nicht siehst und das ist . . .“ – wer kennt dieses Kinderspiel nicht. Es fordert heraus, den Blick zu schärfen und etwas zu finden, was sichtbar und dennoch schwer zu sehen ist.
Beide Seiten, die fragende und antwortende, sind aufgefordert, ihr Blickfeld genau abzusuchen. Und mit einem Mal kommt etwas ans Tageslicht, das da war und doch nicht gesehen wurde. Überraschung? Nur ein Kinderspiel?Wenn wir sehen, nehmen wir meist wahr, was wir gelernt haben zu sehen. Unser Blick ist auswählend und nicht neutral. Das Gesehene weckt Gefühle und Erinnerungen und wird in unser Weltbild eingeordnet. Die Art und Weise, wie wir Welt erfassen, hängt von unseren Wünschen, Interessen, der eigenen Geschichte, der Einbindung in die Gesellschaft ab.
Eine Gesellschaft – viele Stimmen
Unsere Gesellschaft ist vielstimmig. Doch einige Stimmen sind lauter als andere. Sie bilden einen Trend von der Vorstellung, wie Leben gelingt. Deutlich wird dies in Slogans wie z. B. Teilen – ein Schmäh von gestern. Das Glück wohnt im Kaufhaus nebenan und ist käuflich! Du bist, was du hast! Rücksichtslosigkeit ist eine Tugend der Starken! Müßiggang ist verdirbt den Charakter. Wird die Welt so gesehen, folgt daraus eine bestimmte Lebensweise.
Zu einer anderen Lebensweise werden jene kommen, die mit der biblischen Vision von Gerechtigkeit dieselbe Welt betrachten. Mit einem Mal wird etwas sichtbar, was zuvor nicht gesehen werden konnte. Der Trend wird in Frage gestellt: Macht persönliche Sattheit glücklich? Wo bleiben jene mit wenig Geld? Was wird aus der Umwelt? Geschieht diese Infragestellung in einem öffentlichen Raum, wird sich jene Logik durchsetzen, die in diesem Bereich vorherrschend ist. Die VertreterInnen der anderen Seite ernten den Spott, den Vorwurf der Verrücktheit und der Gefährdung des Systems. Schlimmstenfalls werden sie ausgeschlossen oder „so fest umarmt“, dass sie ihren Widerspruch aufgeben. Zwei Wahrheiten stehen einander hier gegenüber . . . und es gibt mehr als zwei Zugänge zur Wirklichkeit.
Die Ordnung und ihr Widerspruch
Die Tatsache verschiedener Sichtwiesen der Wirklichkeit ist nichts Neues und begegnet schon bei den biblischen ProphetInnen. Ihr Ringen gilt einer gerechten Gesellschaft, wie sie dem Volk Israel von Gott nahe gelegt wurde. Die Sorge um die Gegenwart, ihre Verbundenheit mit Gott und den Menschen bilden den Ausgangspunkt für ihr Auftreten. Sie ergreifen das Wort, weisen auf Ungerechtigkeiten hin, kritisieren die herrschende Logik und streiten für eine gerechte, gottgewollte Ordnung. Dies macht sie zu unangenehmen ZeitgenossInnen und zu Verrückten im Rahmen der herrschenden Ordnung. Sie werden „meschugge“ genannt, d. h. verrückt, wahnsinnig (vgl. 2 Kön 9, 11; Jer 29, 26; Hos 9, 7). Ihre Botschaft macht sie zu Wahnsinnigen aus der Sicht des Systems.
Wegen ihrer Kritik sind echte ProphetInnen besonders den etablierten Instanzen unbequem. Im Namen der Ordnung wird versucht, sich dieser unbequemen MahnerInnen zu entledigen. Ihr Schicksal ist eng mit ihrer Botschaft verbunden. Die Botschaft will nicht gehört werden, und so folgt der Ausschluss der Boten, die sie bringen. Doch ProphetInnen haben auch AnhängerInnen. Bei diesen gelten sie als von Gott bewegte Menschen, die aussprechen, was längst gesagt gehört.
Die Sorge um die Welt ist politisch
Biblische ProphetInnen sind politische Menschen, die in Sorge um die Welt und im Namen des befreienden Gottes auftreten. Ihre Kritik an bestehenden Ungerechtigkeiten macht sie zu gefährlichen und gefährdeten AußenseiterInnen. Als solche bilden sie jedoch ein notwendiges, politisches Prinzip: Denn sie sehen etwas, das andere nicht mehr zu sehen imstande sind, und sie sagen Worte, die andere nicht mehr zu denken wagen.
Dr. Christina Spaller, Bibelwissenschafterin und Religionslehrerin, Linz.
BedenkText
Wer wird da nicht zum Propheten?
Gehen zwei den gleichen Weg, ohne dass sie sich verabredet haben? Brüllt der Löwe im Wald und er hat keine Beute? Gibt der junge Löwe Laut in seinem Versteck, ohne dass er einen Fang getan hat? Fällt ein Vogel zur Erde, wenn niemand nach ihm geworfen hat? Springt die Klappfalle vom Boden auf, wenn sie nichts gefangen hat? Bläst in der Stadt jemand ins Horn, ohne dass das Volk erschrickt? Geschieht ein Unglück in einer Stadt, ohne dass der Herr es bewirkt hat? Nichts tut Gott, der Herr, ohne dass er seinen Knechten, den Propheten, zuvor seinen Ratschluss offenbart hat: Der Löwe brüllt – wer fürchtet sich nicht? Gott, der Herr, spricht – wer wird da nicht zum Propheten?