Wer ist Jesus von Nazareth? Mit vielen Geschichten, Bildern und Anspielungen suchen die Verfasser der neutestamentlichen Texte Jesus zu begreifen und seine außergewöhnliche Wirkung zu erklären. Diese Suchbewegung kommt an kein Ende. Auch heute stellen sich nachdenkliche Menschen die Frage: Wer ist dieser Jesus? Welche Bedeutung soll man ihm beimessen? Bringt er wirklich die befreiende Botschaft für ein geglücktes Leben? Aber es ist nicht zu übersehen: In unserer Kultur ist die Frage nach Jesus trotz aller hochfahrenden Hoffnungen auf ein neues Interesse an Religion noch nicht wiedererwacht. Glück wird anderswo erwartet: beim Shopping in riesigen Einkaufstempeln, in einer Heimat ohne AusländerInnen, durch Geldanlagen in gewinnversprechenden Fonds, in Spielcasinos, in abwechslungsreicher, zuweilen bizarrer Sexualität, durch erfolgreiche Kinder und eine lebenslange Gesundheit.
Aktivsein, Erleben, Spielen, Konsumieren, Genießen sind die uns verzaubernden Wörter. Wo ist hier Jesus? Wie ihn suchen?Das Evangelium vom Sonntag bringt eine unerwartete Antwort. Johannes, der Täufer und Vorläufer Jesu, ist im Gefängnis. Er hatte in wilden Worten ein unmittelbar bevorstehendes Zorngericht Gottes über die sündigen Menschen, „die Schlangenbrut“, ausgerufen. Ein großer Prophet wird kommen, die guten von den bösen Menschen trennen und diese „in einem nie erlöschenden Feuer verbrennen“. Und der Angekündigte kommt – Jesus. Aber ohne Zorn und Gericht, ohne Feuer und Verdammung. Schlagartig verändert sich die Rede. „Das Volk, das im Dunkel lebt, hat ein helles Licht gesehen.“ Wie bei Johannes lautet der entscheidende Ruf: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“ Aber bei Jesus ist dies keine dunkle Drohung, sondern eine helle Verheißung.
Ich habe viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass dieser Ruf zur Umkehr keine Moralpredigt ist. Ohne Bedingung wird hier das Unwahrscheinliche zugesagt: „Gottes Reich und Friede kommen. Dreh dich doch danach um!“ Es folgt keine moralische Belehrung, sondern die Berufung der ersten Jünger und die knappe Mitteilung, dass Jesus die Frohe Botschaft vom Gottesreich verkündete und „alle Krankheiten und Leiden heilte“.
Am Ende meiner Kommentare zu den Evangelien im Jänner 2002 stehe ich nochmals vor Jesus. Ich blicke ihn an, den so viel Größeren. Dann umarme ich ihn. Ich spüre seine sanften Hände. Und er flüstert mir zu: „Hab Vertrauen, das Reich Gottes kommt!“
Wilhelm Achleitner ist Direktor des Bildungshauses Schloss Puchberg bei Wels.