Sexualisierte Gewalt ist keine Frage der Nationalität
Nach den sexuellen Übergriffen gegen Frauen in der Silvesternacht in deutschen Städten wie Köln und Hamburg, aber auch in Österreich, herrschen in der Debatte darüber Entsetzen und Empörung, Verunsicherung und Angst vor. Mehr und mehr steht die Herkunft der mutmaßlichen Täter – sie sollen vor allem aus dem afrikanischen und arabischen Raum stammen – im Blickfeld. Katharina Hölbing, psychosoziale Beraterin, warnt vor einer Pauschalverurteilung von Flüchtlingen.
Wie schätzen Sie als Expertin die Übergriffe gegen Frauen ein, zu denen es in der Silvesternacht gekommen ist? Katharina Hölbing: Diese Vorfälle sind nicht zu akzeptieren und aufs Schärfste zu verurteilen. Ganz klar betonen möchte ich aber, dass sexualisierte Gewalt nichts zu tun hat mit Nationalität, sondern sie ist in jedem Kulturkreis, in jedem Land allgegenwärtig. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Das hat es immer schon gegeben. Auch in der Bibel kommt sexuelle Gewalt vor; im Buch der Richter wird über Vergewaltigung erzählt. Grundsätzlich muss man sagen, dass sexualisierte Gewalt seit Jahrhunderten ein Tabuthema ist, über das kaum gesprochen wird. In Österreich ist Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1998 strafrechtlich verfolgbar, Vergewaltigung in der Lebensgemeinschaft seit 2004. Nur ganz langsam wird diese Tabuisierung aufgehoben.
Sie sagen, sexualisierte Gewalt hat es immer schon gegeben. Diese aktuellen Übergriffe sind in der Öffentlichkeit passiert. Ist das ein neues Phänomen? Katharina Hölbing: Dass Massenvergewaltigungen in Kriegen als Waffe eingesetzt werden, um den Gegner zu demoralisieren, das ist bekannt. Sie zählen zu den scheußlichsten Gewaltakten, die es gibt. Aber solche Vorfälle, wie sie jetzt passiert sind, kenne ich bisher nicht. Das ist ein neues Phänomen. Woran man das festmachen will, weiß ich nicht. Für mich persönlich handelt es sich dabei um ein organisiertes Verbrechen. Das hat Methodik.
Welche Methodik könnte dahinterstecken? Katharina Hölbing: Das ist schwer zu sagen, aber es sind auf jeden Fall Machtdemonstrationen. Bei sexualisierter Gewalt oder bei Vergewaltigung geht es nicht um Sexualität, es geht nicht um Trieb, es geht nicht um Lust, sondern es geht immer um Demütigung, um Kleinhalten, um Machtausübung. Sexualisierte Gewalt hat auch nichts damit zu tun, wie man aussieht, wie man angezogen ist, ob man jung ist oder alt oder zu welcher sozialen Schicht man gehört. Generell ist es so, dass sexuelle Übergriffe nicht mehrheitlich auf der Straße, im öffentlichen Raum, vorkommen. Tatsache ist, dass zwei Drittel der Fälle begangen werden im privaten oder halböffentlichen Raum von Tätern aus dem sozialen Nahfeld, aus der Familie, aus dem Freundeskreis der betroffenen Frau.
Man hat den Eindruck, dass es bei der Debatte um diese Vorfälle weniger um die Gewalt gegen Frauen geht, als vielmehr darum, gegen Flüchtlinge mobil zu machen, da die mutmaßlichen Täter auch aus dem arabischen Raum stammen. Ist hier nicht Vorsicht angebracht, was die Täterherkunft betrifft? Katharina Hölbing: Ja, man muss sehr aufpassen, um Nationalitäten und Kulturkreise nicht pauschal zu verurteilen. Wir wissen ja aus der Geschichte, wo das hinführen kann. Da muss man sehr vorsichtig sein, denn viele Menschen, die geflüchtet sind und sich momentan in Europa aufhalten, sind Opfer und nicht Täter. Es gibt leider Menschen, die nun dazu tendieren, alle Fremden in einen Topf zu werfen und über einen Kamm zu scheren. Natürlich kann man nicht sagen, das sind nur gute Menschen, die zu uns kommen; genausowenig kann man aber sagen, das sind alles Sextäter oder Vergewaltiger. Das muss sehr differenziert betrachtet werden.
Männliche Zuwanderer und sexuelle Gewalt gegen einheimische Frauen – viele befürchten, dass das zunehmend ein Problem werden könnte ... Katharina Hölbing: Es gibt Statistiken für Österreich, die sind seit Jahren ähnlich. Sie besagen, dass jede dritte Frau einmal im Leben von sexualisierter Gewalt betroffen ist und jede siebte Frau einmal im Leben vergewaltigt wird. Ich will hier keinen Schluss ziehen und sagen, dass durch die Zuwanderung von Migranten sexuelle Übergriffe häufiger werden. Es ist ganz wichtig, die sexualisierte Gewalt, die immer schon präsent war – bei uns in Österreich, in Deutschland, überall auf der Welt –, zu enttabuisieren, darüber zu reden, sie an die Öffentlichkeit zu bringen. Umso eher trauen sich betroffene Frauen – egal ob die Täter Migranten waren, Österreicher oder Deutsche –, diese Übergriffe zur Anzeige zu bringen.
Denken Sie, dass Frauen nun mehr Angst haben, in der Öffentlichkeit belästigt zu werden? Katharina Hölbing: Diese Angst hat es bei Frauen stets gegeben. Viele fürchten sich, allein am Abend heimzugehen, weil ja immer wieder etwas passiert. Aber man muss aufpassen, dass man nicht den Frauen die Verantwortung dafür überträgt, dass solche Vorfälle geschehen. Denn es kann nicht sein, dass Frauen nicht mehr aus dem Haus gehen, sich nicht mehr im öffentlichen Raum treffen und nur mehr mit dem Taxi von A nach B fahren. Frauen müssen dahingehend gestärkt werden, dass sie trotzdem ihre Wege gehen können. Zu sagen, wären die Frauen dort nicht hingegangen, hätten sie nicht das und das getan oder hätten sie sich anders gekleidet, dann wäre das nicht passiert, ist eine Schuldumkehr. Es muss ganz klar sein, wer Opfer ist, wer Täter ist und wer die Verantwortung dafür trägt. Und die Verantwortung trägt immer der Täter.
Was tu ich als Frau, wenn ich mich direkt in so einer Situation in einer organisierten Gruppe befinde? Katharina Hölbing: Wenn möglich laut sein, schreien, sich wehren. Das Problem ist, dass man in so einer bedrohlichen Situation eher einfriert. Das ist ein natürlicher Prozess, eine Schutzfunktion, ähnlich dem Totstellen im Tierreich. Frauen, die es geschafft haben, wehrhaft zu sein, denen geht es danach oft besser, weil sie das Gefühl haben, zumindest alles in ihrer Macht Mögliche getan zu haben. Aber es gibt kein Patentrezept. Jeder Frau, die von sexueller Gewalt betroffen ist, rate ich, Beratungsstellen, die es in ganz Österreich gibt, aufzusuchen, wenn nötig medizinische Betreuung in Anspruch zu nehmen und, wenn sie den Vorfall anzeigen will, Prozessbegleitung bei einer passenden Gewaltschutzeinrichtung in Anspruch zu nehmen.
OÖ: aFZ – autonomes Frauenzentrum, Tel. 0732/60 22 00, E-Mail hallo@frauenzentrum.at
Tirol: Frauen gegen VerGEWALTigung, Tel. 0512/57 44 16, E-Mail office@frauen-gegen-vergewaltigung.at
Burgenland: Notrufberatung für vergewaltigte Frauen und Mädchen: Tel. 01/523 22 22, E-Mail notruf@frauenberatung.at
Vorarlberg: ifs Gewaltschutzstelle Vorarlberg, Tel. (0)5 1755 535, E-Mail gewaltschutzstelle@ifs.at