In den Aidskranken sieht Josef Erbler das geschlagene Gesicht Christi. Und manche von ihnen haben ihm auf seinem eigenen Emmaus-Weg die Augen geöffnet.
Was ist der Unterschied zwischen Krebs und Aids? Beides sind sehr schwere Krankheiten, Aids jedoch ist bis heute eine diskriminierte Krankheit und eine Krankheit, die trotz verbesserter Medikamente immer zum Tode führt. Obwohl die Betroffenen immer von neuem hoffen, in Würde überleben zu können, wissen sie zugleich, dass sie den Keim des Todes in sich tragen. Seit 13 Jahren begleite ich HIV- positive und aidskranke Menschen. Wenn sie es wünschen, bleibe ich an ihrer Seite bis zum Tode. Und viele haben sich das bis jetzt gewünscht. Wenn es so weit ist, dann ist es gut, bereits eine tragfähige Beziehung zu haben.
Sein Leben umgedreht
In dieser Fastenzeit fällt mir öfter Michael ein, der sich als 17-Jähriger angesteckt hat und vor ein paar Jahren mit 27 an Aids gestorben ist. Ich war bis zu seinem irdischen Ende bei ihm, und mich überfällt heute noch Trauer, wenn ich an ihn denke. Michael war wie fast alle Betroffenen, die die Diagnose erfahren, zuerst verwirrt und dann depressiv. Es ist uns in der Selbsthilfegruppe gelungen, ihm dabei zu helfen, aus seiner Traurigkeit herauszukommen. Und dann geschah plötzlich Ungewöhnliches. Michael wollte das verwirklichen in seinem Leben, was er eigentlich immer wollte. Er hängte seinen Beruf als Kaufmann an den Nagel und begann klassischen Gesang zu studieren. Die Kraft schöpfte er aus dem Bewusstsein, dass ihm wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit blieb, und diese Zeit wollte er erfüllt verbringen. Mit unglaublichem Fleiß, Ausdauer und Mut schaffte er das Gesangsdiplom als Opernsänger mit „Sehr gut“. Nun schien einer Karriere nichts mehr im Wege zu stehen. Die ersten Engagements kamen, aber sein Gesundheitszustand verschlechterte sich kontinuierlich. Nach einigen Monaten konnte er nicht mehr gehen, war ans Bett gefesselt, musste seine Wohnung gegen ein Krankenzimmer eintauschen. Ich habe es erlebt, wie im Gleichklang mit dem körperlichen Verfall seine Seele immer mehr in den Vordergrund trat und das körperliche Gebrechen für mich beinahe „aufhob“. Seine „geistig-seelische“ Präsenz wurde immer intensiver und erreichte ihren Höhepunkt in dem Augenblick, als er aus dem irdischen Leben schied. „Ich lag in tiefster Todesnacht, Du warest meine Sonne …“ Wie bei einer Symphonie zog sich das Thema „Leben – Tod – Auferstehung“ in mehreren Variationen durch Michaels Leben. Nein, es kann nicht plötzlich zu Ende sein, das Leben bricht mit Sicherheit nicht ab. Es geht in verwandelter Form weiter – davon bin ich überzeugt, das weiß ich, und das haben mich die todkranken und sterbenden Menschen gelehrt. Sie wurden meine Begleiter auf dem Weg nach Emmaus. Mein Kruzifix in meinem Wohnzimmer hat einen aufgerichteten Korpus. Im Tod liegt die Auferstehung. Und wenn in traurigen Momenten mein Blick darüberschweift, geht eine Kraft davon aus, die mich in eine andere, zuversichtlichere Stimmung bringt: „Ich lag in tiefster Todesnacht, Du warest meine Sonne …“ Ich habe von den Betroffenen für mein Leben viel gelernt. Ich habe gelernt, intensiver zu leben, bestimmter und kompromissloser zu werden in den Dingen, die für mich wichtig sind und für die ich aus Überzeugung eintrete.
Auf der untersten Sprosse
HIV-positive Menschen werden bis heute in unserer Gesellschaft diskriminiert, verachtet, geschnitten und ausgegrenzt. Es gibt angeblich sogar Ärzte, die sich weigern, aidskranke Menschen zu behandeln. Diese Kranken und ihr Gebrechen stehen in unserer Gesellschaft auf der untersten Sprosse. Ja! Es ist noch immer so. Ich weiß es aus Erfahrung und aus den wöchentlichen Berichten Betroffener. Und hier treffen sie sich mit dem Schicksal, das Jesus Christus selbst widerfahren ist. Auch er wurde zurückgewiesen und ausgegrenzt. Ja, ich bin Christus in vielen dieser todkranken Menschen begegnet. „Was ihr den geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. Umso mehr ist es für uns Christen eine Herausforderung, uns immer dann, wenn wir gefordert sind, nicht wegzuschauen, sondern uns einzusetzen, dass unterdrückte Menschen als gleichwertige Mitglieder unserer Gemeinschaft betrachtet werden und ein menschenwürdiges Leben führen können. Es liegt an uns, und es liegt noch ein weiter Weg vor uns.„Ich lag in tiefster Todesnacht, Du warest meine Sonne …“