Gerichtsmediziner, Chemiker, Informatiker, Historiker: Kein Wissenschaftler erklärt, dass das im Turiner Dom aufbe-wahrte Leinen mit 100-prozentiger Sicherheit das Grabtuch Jesu sei. Aber ihre Forschungen würden keinen anderen Schluss zulassen.
Die Geschichte nimmt sonderbare Wege: Gerade die Naturwissenschaft – nicht unbedingt ein Liebkind des Glaubens – verhilft einer Reliquie zu Weltruhm. 1898 machte der Rechtsanwalt Secondo Pia als Erster Fotografien des Turiner Grabtuches und staunte nicht schlecht über das Ergebnis: auf dem fotografischen Negativ erschien ein Positiv-Bild und zeigte die Umrisse des Mannes im Grabtuch. Die Aufnahmen ermöglichten erstmals die Untersuchung des Abbildes. Seither entwickelte sich sogar ein eigener Wissenschaftszweig: Die „Sindonologie“, benannt nach der italienischen Bezeichnung für das Grabtuch „La Santa Sindone“. Als 1988 Kardinal Anastasio Ballestrero, der Erzbischof von Turin, das Ergebnis einer Altersdatierung des Grabtuches mit der C14-Methode vorstellte, löste er ein mittleres Erdbeben aus: Drei Laboratorien datierten die Entstehungszeit zwischen 1260 und 1390 nach Christus.
Voller Blutspuren
Die C14-Methode ist eine von vielen Möglichkeiten der Altersbestimmung eines Gegenstands und nicht als aussagekräftigste anerkannt, betonte Karlheinz Dietz, Professor für alte Geschichte an der Universität Würzburg beim Kongress in Wien: Widerspricht sie mehreren anderen gesicherten Angaben, wird sie einfach nicht in Betracht gezogen. Das sei auch im Fall des Turiner Grabtuchs sinnvoll. Denn die Analyse des Gewebes und Vergleiche mit Textilfunden in Israel zeigen, dass sich das Tuch in den Zeitraum von 40 n. Chr. bis 74 n. Chr. datieren lasse, so Mechthild Flury-Lemberg, Expertin für Textilkonservierung. Der Gerichtsmediziner der Universität Turin Prof. Dr. Pierluigi Baima Bollone zeigte in Einzelheiten auf, dass es sich bei den Abdruck im Grabtuch um einen Geschlagenen und Gekreuzigten handelt. Unter anderem weist er auf Verletzungen an der Schulter hin, die vom Kreuzesbalken herrühren könnten, und auf eine 4,5 cm breite Wunde in der Rippengegend, die von einem erst nach dem Tod zugefügten Lanzenstich stammt, da in den ausgedehnten Blutspuren Serum enthalten ist. Die Blutgruppe des Gekreuzigten wird mit AB bestimmt, seine Körpergröße mit 170 bis 180 cm und außerdem hatte er einen üppig sprießenden Bart.
„Köder Gottes“
Vergleicht man die Leidensgeschichte der Evangelien mit den Spuren am Grabtuch, dann kann mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ davon gesprochen werden, dass der „Mann des Grabtuchs“ Jesus von Nazareth sei, so Dr. Bruno Barberis, Professor für Rationale Mechanik.Für Kardinal Christoph Schönborn ist das Grabtuch ein „Köder Gottes“, der auch die Wissenschaftler zur Beschäftigung mit der Auferstehung veranlasse. Das Grabtuch sei aber kein Glaubensgegenstand, so der Kardinal: „Für mich ist es ein Zeichen, das mich mit Jesus verbindet.“
Zur Sache
Super-GAU für Grabtuchforscher
Eine im Spätmittelalter auf höchst raffinierte Weise produzierte Reliquie, so bezeichnet Josef Dirnbeck das Turiner Grabtuch. Der Theologe und Schrifsteller begründet in seinem Buch „Jesus und das Tuch. Die Echtheit einer Fälschung“ (Klosterneuburg-Wien 1988) ausführlich, warum es sich bei der Turiner Reliquie nicht um das Leichentuch Jesu handeln kann: Der Radiokarbon-(C14)- Test, der 1988 von drei unabhängigen Instituten durchgeführt wurde, ist für Dirnbeck der schlagendste natur-wissenschaftliche Beweis, dass es dieses Tuch vor dem Mittelalter nicht gegeben hat: „Der Test war der Supergau für die Grabtuchforscher. Aber auch die bibelwissenschaftlichen Befunde sprechen gegen die Echtheit. „Jesus hat weder Haarlocken noch Tücher hinterlassen, wir haben Spuren ganz anderer Art von ihm: Menschen, die an ihn glauben und ihn bezeugen.“ Das Grabtuch wurde im Mittelalter unter Zuhilfenahme eines Leichnams und chemischer Substanzen hergestellt, so Dirnbeck. Man dürfe aber die religiöse Bedeutung des Turiner Grabtuches nicht verkennen: Nichts spricht dagegen, das Turiner Grabtuch als Reliquie zu verehren und vor ihm das Leiden Jesus zu meditieren. Das Turiner Grabtuch ist eine hochinteressante und immer noch genügend rätselhafte Schmerzensmann-Ikone.