Seit drei Jahren lebt der Franziskanerpater in Bolivien. 100.000 Menschen leben in seiner Pfarre in und um die Millionenstadt Santa Cruz.
Wenn ich, wie in diesem Sommer, in Österreich von Bolivien erzähle, dann heißt es oft: „Dazu braucht’s schon eine Berufung!“ Keineswegs von klein auf habe ich die Berufung zum „Missionar in der Ferne“ gespürt. Ich war bereits Franziskaner, als ich anfing, darüber nachzudenken. Dabei hat sich Gott auch meiner „nicht so frommen“ Interessen bedient, um mich dafür zu begeistern. Ein Schuss Abenteuerlust und die Begierde, Neues kennen zu lernen, waren bei mir genauso dabei wie das Interesse, mit den Armen zu leben und von ihnen zu lernen. Wenn am Ende seines Lebens Franz von Assisi sagt, „Brüder, lasst uns beginnen!“, so umschreibt dies ebenso treffend den lebendigen Prozess einer christlichen Berufung wie meine Sehnsucht nach einem franziskanischen Neuanfang.
Der große Unbekannte
In Südamerika erfahre ich mich zunehmend als Empfangender denn als Gebender, mehr als „Missionierter“ denn als „Missionar“. Eine Begebenheit zeigt die herzliche Aufnahme und Gastfreundschaft, die mir immer wieder entgegengebracht wird – schließlich bin ich Gast und nicht Herr hier in Bolivien. Es war an der Grenze zu Argentinien. Zum ersten Mal kam ich in die Kirche der kleinen Stadt, die bereits vor der Messe voll war mit andächtigen Beter/-innen. Da sprang jemand auf, lief auf mich zu und begrüßte mich lautstark. Zuerst dachte ich, der muss mich wohl mit jemandem verwechselt haben. Doch als plötzlich die halbe Kirche – und bei einem Altersdurchschnitt von unter 20 Jahren sind das großteils Kinder und Jugendliche – auf mich zustürmte und umarmte, war ich sprachlos: der für sie „exotisch“ Unbekannte wird empfangen, als hätten sie ihn schon immer gekannt und geradezu auf seine Ankunft gewartet. Ihre so überschwänglich gezeigte Freude darüber, dass ich bei ihnen sein wollte, erteilte mir eine ordentliche Lektion in Sachen „glauben und werden wie die Kinder“! Ich sehne mich oft danach, so echt und tief, so „natürlich“ und unkompliziert mit dem Herzen glauben zu können wie der Großteil derer, denen ich hier begegne. Wie sie alles auf Gott beziehen und im Bewusstsein seiner Gegenwart leben. Im Vergleich dazu ist es wenig, wenn ich mit meiner theologischen Bildung ihr Glaubenswissen bereichern oder manchmal unchristliche, oft magische und mit Angst besetzte Vorstellungen korrigieren kann.
Vorsehung statt Vorsorge
In den „Industrieländern“ leben wir weithin in einer Leistungsgesellschaft. Zeit ist Geld, und der Wert des Menschen wird daran gemessen, was er besitzt oder produziert. Gerade als Franziskaner habe ich es hier neu gelernt, wie befreiend es sein kann, mich nicht ängstlich zu sorgen und alles abzusichern, Gott und seiner Vorsehung Platz zu lassen, wo unsere Vorsorge zum Krampf wird. Mit dem Wenigen und Notwendigen, das der Großteil der Bevölkerung besitzt, glücklich und zufrieden zu sein, ist eine Kunst, eine christliche Tugend, die uns in einer Welt des Konsums abhanden gekommen ist. Das soll weder arge Mängel, wie im Bildungswesen oder in der sanitären Versorgung, beschönigen noch die Ungerechtigkeit in der Verteilung der Güter und Einkommen verschweigen. Das Übel muss klar beim Namen genannt und bekämpft werden. Doch sollen in der „Entwicklungsarbeit“, in der Begegnung mit dem Fortschritt unserer „Zivilisation“ die überlieferten Werte der jeweiligen Kultur nicht aufgegeben oder gar verachtet werden. Das Evangelium, die Gottes- und Nächstenliebe, die die Indios bereits in ihrer Geschichte leben und die nicht etwa ich „Missionar“ ihnen erst bringe, muss als Teil der Identität erkannt und geschätzt werden.
Gemeinsam zum Ziel
Gerade in einer Großstadt, wo die Gegensätze von armen Zuwanderern aus dem Land und den wohlhabend „verwestlichten“ Geschäftsleuten aufeinander prallen, sehe ich meine Berufung darin, die Menschen in ihrem Glauben zu begleiten: indem ich vor allem und zuerst mit ihnen lebe und so auch ihr Selbstwertgefühl stärke. Als Kirche, aber auch als Menschheitsfamilie sind wir eine Weggemeinschaft, in der niemand alleine ans Ziel findet. Wir brauchen einander in der Vielfalt der Begabungen und Talente, der Kulturen und Völker. Nur wenn wir es lernen, den materiellen Reichtum zu teilen und die spirituelle Weisheit des anderen anzunehmen, wird das Reich Gottes Wirklichkeit in Zeit und Welt. Dazu kann jede und jeder von uns beitragen – an dem Ort des Berufes und der eigenen Berufung.P. Andreas Holl OFM