Er führt uns aus den Friedhöfen begrabener Hoffnungen und erfüllt uns mit unverseuchtem Leben
Ausgabe: 2003/16, Ostern, Leben, Senfkorn, Glaube
15.04.2003 - Angelika Pressler
Auf der Suche nach Ostern zwischen Bildern aus Bagdad, der aussichtslosen Winzigkeit des Senfkorns und der wachsenden Angst vor Ansteckung.Ich sitze im Großen Festspielhaus von Salzburg, öffentliche Generalprobe der Osterfestspiele. Die Ouvertüre von Beethovens „Fidelio“ beginnt. Mit der Musik steigen Bilder von Menschenrechtsverletzungen in mir auf. Todeshäftlinge in orangefärbigen Overalls, politische Gefangene in den Katakomben riesiger Fußballstadien. Leidens-Zeit statt Frei-Zeit. Schön spielen sie, die Berliner Philharmoniker. Lästig, immer noch geistern die Folterwerkzeuge staatlicher Machtapparate durch meinen Sinn. Jesus wird seiner Kleider beraubt. Florestan, Tenor und politischer Häftling in der Oper, singt: Gott, welch Dunkel hier. Der lautlose Schrei aller Gottverlassenen, ästhetisch verpackt in einer apfel-grün-gelben Zwangsjacke, darunter ein Frack. Jesus wird mit Dornen gekrönt.Abends vor dem Fernseher. Bilder aus Bagdad. Symbole diktatorischer Macht werden von Panzern niedergewalzt. Leere und Müdigkeit machen sich breit in mir.
Senfkorn und Reich Gottes
Ostern 2003: Kleines Senfkorn Hoffnung, wie kann ich dich erinnern inmitten der wild aufgeschossenen Untriebe unserer Zeit? Mit dem Reich Gottes ist es wie mit einem Senfkorn; kleiner als die anderen Samen schießt es nach der Aussaat empor, wird größer als alle Gartengewächse und die Vögel des Himmels tummeln sich in seinen mächtigen Zweigen. Ich werde wütend. Kein Wunder, dass Erinnerungssuche so schwer fällt angesichts der Winzigkeit und Unscheinbarkeit eines Senfkornes. Ist es nicht längst schon zertreten, zermalmt von den Stiefeln im Spiel der Mächtigen? Andererseits: War nicht die Praxis Jesu schon der Beginn des Reiches Gottes? Am Anfang war das Senfkorn. Ausgesät als überdimensionale Hoffnung, als Machterweis einer ganz anders zu verstehenden „Herrschaft“ Gottes. Die Macht, die „dynamis“ Gottes zeigt sich vom Beginn an darin, dass die Herrschaft von Menschen über Menschen aufgelöst ist. Sie beginnt mit Heilung, mit der Frohen Botschaft an die Armen, Unterdrückten und Randständigen, zu denen Jesus sich selber bekennt.Ostern 2003: Ver-rücktes Senfkorn Hoffnung! Dieses Bild für das Reich Gottes konnte zur Zeit Jesu aber auch ganz andere Vorstellungen hervorrufen. Es stand auch für Gefahr und Tabu: Das winzig kleine Senfkorn galt strengen Juden als Maß für Reinheit. Kam jemand auch nur mit einer senfkorngroßen Spur von Blut oder Samen in Berührung, war er unrein und für eine bestimmte Zeit vom Kult in der Synagoge (Tempel) ausgeschlossen. Absurd! Ein negativ belastetes Wort als Bild für das Reich Gottes. Wie anstößig würde es klingen, wenn jemand in der heutigen Zeit mit ihrer erst wieder neu entfachten Infektionsangst verkündete: Mit dem Reich Gottes ist es wie mit einem Virus, wie mit einer Bakterie! Die Macht Gottes ist anstößig. Das Schmutzbild der Bakterie ist wie eine beißende Satire auf die schmutzigen Machenschaften menschlicher Mächte und Gewalten.
Gefährliche Erinnerung
Ostern 2003: Die Welt liegt kreißend in Geburtswehen, die Frucht der Erlösung hängt am Kreuz. Was erinnert Jesu Leidensgeschichte, sein Sterben, seine Auferstehung? Was für eine bedrängende Erinnerung ist angesagt? Keine Erinnerung, die versöhnt mit der Gewaltgeschichte der Menschheit. Keine Erinnerung, getarnt als Aussöhnung mit den Zurichtungen an uns und der eigenen Mittäterschaft. Angesagt ist jene „gefährliche Erinnerung“, in der die Autorität der Leidenden im Mittelpunkt steht. Es ist eine Erinnerung an die eigene Empfindsamkeit gegenüber fremdem Leid. Über ihr steht nur noch das Gedenken an die richtende Autorität Gottes. Der österliche Glaube ist eine Widerstandskraft, die uns nicht nur leben lässt umgeben von Todesstrukturen, sondern antreibt, sich diesen Gewalten der Welt nicht zu beugen.Mut ist angesagt, nicht Wut. Wut ist infizierend – Mut ansteckend. Überall dort, wo Menschen sich anstecken mit der befreienden Bakterie des Reiches Gottes, überall dort wird Zukunft erinnert, werden die Friedhöfe begrabener Hoffnungen und Sehnsüchte mit unverseuchtem Leben erfüllt.
Ostern 2003: Mitten in der Verseuchung beginnt Hoffnung zu keimen.