Ich bin in dem Alter, in dem man mehrmals in der Woche in den Todesanzeigen Bekannte aus derselben Generation findet. Man fühlt, dass die Stunde unaufhaltsam näher rückt. Es geht auf die Landebahn zu, die Maschine ist im Sinkflug, Fahrgestell und Klappen sind schon ausgefahren. Trotz der vielen Abschiede kommt zwischendurch ein Tod, der besonders berührt. Mein Freund Hermann, ein verdienter und treuer Priester, hat im Innsbrucker Dom einen würdigen Abschied erhalten. Die schönen Lieder von Heimgang und Auferstehung erklangen und die Orgel füllte mit ihren mächtigen Akkorden Kuppel und Gewölbe mit einer Harmonie von Dankbarkeit und Hoffnung. Aber mir mischte sich eine andere Melodie dazu, die die anderen nicht so hören können, ein kleines Stück des Liedes vom guten Kameraden, das vielleicht für manche Ohren eine etwas sentimentale Draufgabe bei Begräbnissen sein mag. Doch für mich war es jetzt aktuell: „Als wär’s ein Stück von mir . . .“Die gemeinsamen Wege verliefen lang und durchaus bewegt.
Im Gymnasium waren wir in derselben Schulbank, in der Katholischen Jugend als Gruppenführer – er später als Boss der großen Gemeinschaft. Gemeinsam haben wir 1938 den Umsturz und den Gang in die Illegalität erlebt, gemeinsam die Matura bestanden. Drei Tage später sind wir zum Reichsarbeitsdienst eingerückt, einer Welt voll Propaganda und Kirchenhass. Nebeneinander schaufelten wir den schweren Lehm in den Sumpfwiesen, nebeneinander lagen wir im Dreck des Exerzierplatzes und präsentierten die blank geputzten Spaten und vollführten alle die sinnlosen Rituale, die ein autoritärer Staat zur Disziplinierung seiner Untertanen erfindet. Nach Beginn des Krieges 1939 wurden wir miteinander entlassen und fanden uns im Priesterseminar wieder. Wir betraten mit einer gewissen jugendlichen Unbekümmertheit eine damals nicht eben zeitgemäße Laufbahn, wurden von der Gestapo delogiert und mussten in Kärnten unser Glück versuchen. In den Osterferien wanderten wir für einige Monate ins Gefängnis und entkamen nur knapp dem KZ.
Der Krieg hat uns dann weit auseinander geworfen. Hermann kam nach Afrika und geriet mit seinem Panzerspähwagen bis zur Oase Siwa in Ägypten. Dann schickten ihn die Vorgesetzten als Offiziersanwärter auf die Kriegsschule. Dort verlangte man von ihm, er solle vor der versammelten Akademie eine Rede zu dem damals in ganz Deutschland laufenden Propagandafilm zur Tötung der Geisteskranken halten. Hermann sagte klipp und klar, dass die Tötung hilfloser Kranker Mord sei und Mord bleibe. Da-raufhin wurde er an die Front geschickt und nie mehr befördert.
Im Canisianum in Innsbruck gab’s nach dem Krieg ein fröhliches Wiedersehen – zum Weiterstudium, im gleichen Zimmer. Es war herrlich. Im gleichen Jahr feierten wir Primiz – und sogar der erste Posten führte uns zusammen: Erzieher im bischöflichen Gymnasium. Auch später sind wir in der Seelsorge durch Jahrzehnte zusammengekommen. So ist das durch 65 Jahre gegangen. Deshalb erklang in mir eben die kleine Melodie „Als wär’s ein Stück von mir“, sie ließ sich auch durch die schönsten Orgelklänge nicht übertönen. Hermann hatte einen langen Leidensweg zu durchschreiten, in dessen Verlauf er immer schmaler und blasser wurde. Aber er hat mit keinem Wort geklagt. Wenn man mit Panzerspähwagen durch die Libysche Wüste fahren musste, ist man wahrscheinlich auf Durststrecken im Leben eingeübt. Die Route am Ende seines Lebens ging durch viele Sanddünen der Schmerzen und durch trostlose Wadis mit wenig Oasen.
Nun, es war ein Leben wie viele Leben unserer Generation, und er wäre der Letzte gewesen, der sich für etwas Besonderes gehalten hätte. Er hat von sich überhaupt fast nie gesprochen. Aber ich muss ihm ein Denkmal setzen, weil er mir ein Vermächtnis übergeben hat, das mich selber nicht loslässt und das ich am Ende meines kleinen Lebensresümees weitergeben möchte. Wie ich meinem Freund Hermann zum letzten Mal Blumen gebracht habe, hat er gesagt: „Weißt du, ich habe mein Leben gelebt – und ich bin für alles dankbar. Und jetzt – jetzt bin ich voller Erwartung …“ So habe ich das noch nie von einem Sterbenden gehört. Mir kommt dieses Wort, je länger ich darüber nachdenke, wie ein kostbares Erbstück vor. Es ist einfach ein großes Wort, wenn man den sicheren und unausweichlichen Tod so unmittelbar vor sich hat. Wir würden uns wahrscheinlich alle glücklich schätzen, wenn wir mit einem so ungebrochenen und starken Glauben einmal sagen könnten: „Und jetzt bin ich voller Erwartung . . .“ Ich weiß kein besseres Schlusswort.