EU-Türkei-Vereinbarung ist „eine wackelige Konstruktion“
Seit bald zwei Wochen bemühen sich EU und Türkei, ihr Flüchtlingsabkommen zum Laufen zu bringen. Doch abgesehen von manchen politischen Fragen wird sich laut Stefan Keßler vom Flüchtlingsdienst der Jesuiten erst in den nächsten Monaten zeigen, ob die Vereinbarung in der Praxis greift.
Ausgabe: 2016/13, Keßler, Flüchtlinge, Asyl
29.03.2016 - Heinz Niederleitner
Seit 20. März sollen „irreguläre Migranten“ von Griechenland in die Türkei zurückgebracht werden. Für jeden Syrer unter ihnen will die EU einen anderen Syrer legal in die EU einreisen lassen – bis zu einer Grenze von 72.000 Personen. Dafür macht die EU der Türkei politische Zugeständnisse und unterstützt die Flüchtlinge dort mit bis zu sechs Milliarden Euro. So lautet zusammengefasst die Vereinbarung. Was einfach klingt, ist es nicht. Denn rechtlich ist es gar nicht möglich, alle Flüchtlinge einfach in die Türkei zurückzuschicken. Jeder Einzelfall muss angesehen werden. „Hier muss vor allem geprüft werden, ob für die einzelnen Personen die Türkei ein sicheres Drittland ist“, erläutert Stefan Keßler. „Das Ganze ist eine rechtlich äußerst wackelige Konstruktion, weil sie davon ausgeht, dass die Türkei für die allermeisten Personen ein solches sicheres Drittland ist, in das man sie zurückschicken kann. Nur erfüllt das Land die Kriterien des EU-Rechts dafür überhaupt nicht“, sagt Keßler. Ein anderes Problem ist für ihn die Grenze von 72.000 Personen. „Die Zahl wird sehr schnell erreicht sein, wenn das überhaupt funktioniert. Ich sehe Schwierigkeiten, weil sich viele Mitgliedsstaaten weigern werden, einen Teil dieser Menschen aufzunehmen.“ Ein weiteres Problem ist, dass es eben nur Syrer sind. Beobachter fragen sich, ob man diese Menschen vor Irakern, Afghanen oder Pakistanis bevorzugen kann. „Ob das zulässig ist, müssten Gerichte klären“, sagt Keßler. Er sagt auch, dass das grundsätzlich schwierig wird, weil nicht einmal klar ist, wen man in diesem Fall verklagen könnte.
Schlepper
Und wie ist das mit dem Hauptargument für die Vereinbarung? Wenn illegal in Griechenland eingereiste Personen durchgängig in die Türkei zurückgebracht und diese Personen bei der legalen Einreise benachteiligt werden, gebe es keinen Grund mehr, sich auf Schlepper und ihre gefährlichen Wege zu verlassen. So lautet die Theorie. Und die Praxis? „Das ist Augenauswischerei“, sagt Keßler knapp. „Die Schlepper werden versuchen, andere Routen ausfindig zu machen. Wer wirklich Schleppern die Geschäftsgrundlage entziehen will, muss das schaffen, was Kirchen und Flüchtlingshilfswerke schon lange fordern: legale Wege nach Europa für schutzsuchende Personen.“ Da gebe es im EU-Recht mehrere Möglichkeiten. „Voraussetzung wäre eine kohärente Politik der EU.“ Dafür fehle aber der Wille bei den Mitgliedsstaaten.
Zahlen
Aufnahmekriterium bliebe ein Verfahren, in dem über die Schutzbedüftigkeit entschieden wird. Aber: „Angesichts dessen, was einzelne Länder in anderen Weltteilen bewältigen, finde ich unsere Diskussion in Europa merkwürdig“, sagt Keßler. Die UN weisen für 2014 1,59 Millionen Flüchtlinge in der Türkei auf, 1,51 Millionen in Pakistan und 1,15 Millionen im Libanon – einem Land etwa halb so groß wie Niederösterreich. Für ganz Europa geben die Statistiken für das Jahr 2015 etwa 1,4 Millionen Flüchtlinge an, sagt Keßler.