Sie haben die Bibel nicht nur gelesen, sondern deren Texte weitergeschrieben. Künstler und Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts haben das Buch der Bücher zu neuer Literatur werden lassen.
Die Bibel ist ein Buch der Widersprüche: Zum einen ist sie voll von Widersprüchen in sich selber, Texte unterschiedlichster Kulturen und Epochen, die schwerlich zusammenpassen. Zum anderen reizt sie ihre Leser/-innen zum Widerspruch, sie ist voll unverständlicher Aussagen und fremder Weltbilder, voll abstoßender Grausamkeiten. Dennoch empfinden viele sie als „langweilig“, ist sie doch von der kirchlichen Verkündigung harmonisiert worden: Kirchliche „Verwaltung der Bibel ist Vergewaltigung der Bibel“, stellt der Journalist Hans-Jürgen Schultz nüchtern fest.Das Buch der Bücher lässt sich jedoch nicht in eine festgelegte Exegese einsperren. „Jenseits des Weihrauchs, wo es klar wird und heiter und durchsichtig, beginnen die Offenbarungen”, sagte Max Frisch. Gerade Künstlerinnen und Schriftsteller, von denen man es am wenigsten erwarten würde, lesen die Bibel.
Bertolt Brechts Antwort auf die Frage nach seiner Lieblingslektüre ist klassisch geworden: „Sie werden lachen, die Bibel!“ Ein anderer war Heinrich Heine: „Weder eine Vision vom Himmel, noch eine seraphitische Verzückung brachte mich auf den Weg des Heils, und ich verdanke meine Erleuchtung ganz einfach der Lektüre eines Buches – und dieses Buch heißt auch ganz kurzweg das Buch: die Bibel.“
Es bleibt nicht beim Lesen
Die Bibel ist noch lange nicht zu Ende geschrieben, und es ist nicht bei der Lektüre geblieben. Künstlerinnen arbeiten an allem weiter, was sie aufnehmen, sie machen ihre Wahrnehmungen zu etwas Neuem, zu Kunst. So haben auch und gerade Schriftsteller des 20. Jahrhunderts die Bibel nicht nur gelesen, sondern deren Texte bearbeitet, weitergeschrieben und zu neuer Literatur werden lassen. Die Zahl der Gedichte, Erzählungen, Romane und Theaterstücke, in denen die Bibel fortgeschrieben wurde, ist unüberschaubar. Zwei Beispiele sollen Lust machen auf mehr. Eine Reihe von Dichterinnen und Dichtern haben die Form der biblischen Psalmen aufgegriffen und neue Psalmgedichte geschrieben. Einer von ihnen ist der junge Bert Brecht. Im Verlauf des Jahres 1920 schrieb er eine Reihe von Gedichten, die er als Psalmen kennzeichnete.
Sie unterscheiden sich im Stil deutlich von den Psalmgedichten seiner expressionistischen Zeitgenossen: Nüchtern sind sie statt pathetisch, frech statt fromm, vulgär statt erhaben. Es sind Gelegenheitsgedichte ohne großen programmatischen Anspruch: „Kleine Lieder, die ich von den Bäumen pflückte am Morgen“. Sie thematisieren Liebe und Sexualität, aber auch Vergänglichkeit und Tod mit betonter Sachlichkeit: „Ich weiß es, Geliebte: jetzt fallen mir die Haare aus vom wüsten Leben, und ich muß auf den Steinen liegen.“
Ein immer wiederkehrendes Motiv, das aus der Psalmdichtung stammt: Brecht vergleicht die Lektüre der Gedichte mit Musik und beschreibt sich selber als Hörenden. Allerdings ist es die bittere Musik aus schäbigen Kneipen, und die Hörer/-innen sind Hilfsarbeiter und Obdachlose: „Ich betäube mich mit Musik, dem bitteren Absinth kleiner Vorstadtmusiken”.
Genialer Regieeinfall
Eine überraschend große Zahl von Theaterstücken verarbeitet biblische Motive und stellt sie in neue Handlungszusammenhänge. Neben Bert Brecht gibt es eine Reihe jüngerer Autoren wie Friedrich Dürrenmatt, Herbert Achternbusch oder George Tabori, die (sich) mit der Bibel spielen.
George Tabori präsentiert in seinem Stück „Die Goldberg-Variationen“ eine lose Aneinanderreihung von biblischen Szenen als „Theater im Theater“. Das Stück handelt von einer Theaterprobe für ein „Biblical“, also für eine biblische Revue, die zur Farce gerät.
Die Schauspielertruppe des „göttlichen“ Regisseurs Mr. Jay probt verschiedene Szenen aus der Bibel. Am Schluss hat Jay einen „genialen“ Regieeinfall: Er improvisiert eine „brandneue Szene, um die Gojim zu beglücken“ – eine real auf der Bühne durchgeführte Kreuzigung. „Mr. Jay: Karfreitag und so. Goldberg: Sie mögen die Juden nicht, stimmt’s? Mr. Jay: Ich mag die Juden nicht, stimmt.“
Und er macht seinen Assistenten, den Juden Goldberg, zum Hauptdarsteller: „Goldberg: Wer spielt den Jungen? Mr. Jay: Du hast eine Nummer am Arm, ist mir nie aufgefallen. Welches Lager? Goldberg: Nur das beste ist gut genug. (...) Mr. Jay: Dann wollen wir jetzt die technischen Einzelheiten besprechen. Kennt sich hier jemand mit Kreuzigen aus?“
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