Damit Leben gelingen kann, bedarf es einer Grundausrichtung, einer Grundorientierung.
Sie gehört zu den bemerkenswertesten Szenen der Filmgeschichte: Charly, der Akkordarbeiter, kommt zwischen die großen Zahnräder einer riesigen Maschine und versucht sich auf witzig-skurrile Weise zu befreien. Die hier angesprochene Sequenz stammt aus dem Charly-Chaplin-Film „Modern Times“ aus dem Jahr 1937. Chaplin spielt einen Heimatlosen, der durch Akkordarbeit am Fließband zu Geld kommen will – und dabei unter die Räder gerät, Opfer der modernen Zeit mit ihrer enormen Beschleunigung wird. Die Erfahrungen, die Chaplin in diesem Film verarbeitet, sind bis heute nicht überholt.
Viele Zeitgenossen haben ebenfalls das Gefühl, Getriebene zu sein und das Leben in einem engen, genau getakteten und verplanten Zeit-Korsett zu verbringen – egal ob in der Arbeit, in der Familie, in der Schule oder in der Freizeit. Dementsprechend zählt die Angst, unter die Räder zu kommen und den verschiedenen Anforderungen oder Erwartungen nicht gerecht zu werden, zu den aktuellen „Grund-Ängsten“.
Alltag „kreativ“ unterbrechen
Wertvolle Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen tragen heute dazu bei, dass das Leben in unserer modernen Zeit gelingen kann. Auch die Religionen haben Wertvolles einzubringen, damit der Mensch „selbst lebt und nicht gelebt wird“. Ein solcher Beitrag ist etwa die Erfahrung, dass zum Gelingen des Lebens eine Grundausrichtung, eine Grundorientierung gehört. Diese Grundorientierung hilft, inmitten der Alltagsdynamik Wichtiges, Lebensförderliches nicht aus den Augen zu verlieren, sondern in das Leben zu integrieren. Im Besonderen sind es „Rituale“, die den Alltag „kreativ“ unterbrechen, ihn weiten. Für Christen ist solch ein „Ritual“ das Kreuzzeichen. Bewusst gemacht vermag es mit der Zeit eine andere Perspektive zu eröffnen als das bloße „Funktionieren-Müssen“. Indem es dem eigenen Denken, Fühlen und Tun eine neue Richtung gibt, kann mit seiner Hilfe die oft gleichförmige Routine aufgebrochen werden. So schreibt der große Münchener Theologe Romano Guardini in seiner Meditation: „Du machst das Zeichen des Kreuzes, machst es richtig. Kein hastiges, verkrüppeltes, bei dem man nicht weiß, was es bedeuten soll, sondern ein richtiges Kreuzzeichen, langsam, groß, von der Stirn zur Brust, von einer Schulter zur anderen. Fühlst du, wie es dich ganz umfasst? Sammle dich recht; alle Gedanken und dein ganzes Gemüt sammle in dieses Zeichen, wie es geht von der Stirn zur Brust, von Schulter zu Schulter. Dann fühlst du: ganz umspannt es dich, Leib und Seele; nimmt dich zusammen, weiht dich, heiligt dich.“
Sich prägen lassen
Guardini geht es nicht um ein mechanistisches oder magisches Verständnis des Kreuzzeichens. Schnell gemacht wird es gar nichts bewirken, nur an der Oberfläche bleiben. Vielmehr ermutigt Guardini durch das bewusste Kreuzzeichen auf die Stirn, die Brust und die Schultern, das eigene Denken, das eigene Herz, die eigenen Taten „durch-kreuzen“ und ergreifen zu lassen: vom so überraschend anderen Gott, von Jesus und seinem neuen Zugang zum Leben, von einem neuen Denken, einem weiten Geist.
Dieses Sich-Prägen-Lassen durch das Kreuzzeichen kommt in den Worten eines vietnamesischen Christen zum Ausdruck. Als in Vietnam jede religiöse Bekundung von den Kommunisten unter strenge Strafe gestellt wurde, lehrte er seine Mitchristen ein unsichtbares Kreuzzeichen: „Stellt euch Jesu Kreuz in Gedanken vor. Ein Tropfen seines Blutes (seiner Menschenliebe, seiner neuen Botschaft, seines neuen Zugangs zu Gott und den Menschen . . .) fällt auf meine Stirn. Es dringt in meine Gedanken ein, um sie zu erleuchten. Im Namen des Vaters. Es rinnt langsam nach unten ins Herz, um es zur Liebe zu entflammen. Und des Sohnes. Es dringt von da in die Schultern ein, um ihnen Kraft zu geben . . . Und des Heiligen Geistes. Amen.“
Wie Gott mich umgibt
So gesehen erinnert und ermutigt dieses einfache Zeichen, ein neues, weites Denken, eine neue, achtsame Haltung, ein neues, am Wohl des Mitmenschen orientiertes Tun zu „riskieren“ – jeden Tag aufs Neue. Zugleich aber drückt dieses Zeichen Zusage und Zuwendung aus: es macht anschaulich, wie Gott mich „umhüllt“, annimmt, bejaht – mit allem was gelungen und mit allem, was offen geblieben ist.
Stefan Schlager, Referent für Theologische Erwachsenenbildung der Diözese Linz, verheiratet und Vater einer Tochter, wohnt in Pichl/Wels.