Gerade weil meine Lebenszeit begrenzt ist, weiß ich, dass jeder Tag ein Geschenk ist.
Dass er zu diesem Zeitpunkt schon dem Tod so nahe war, habe ich damals nicht realisiert gehabt. Erst ihre klaren Worte ließen mich genau hinschauen und die Situation bewusst wahrnehmen: Wir hatten ganz offensichtlich nur mehr wenig Zeit miteinander – und diese Zeit wollte ich nun nützen, gestalten, nicht vertun. So nahm ich Kontakt mit meinen Geschwistern auf, um ihnen den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Mein Vater lebte dann tatsächlich nur mehr zwei Wochen.
Sehen, was gewesen ist
Er starb an einem Sonntag. Am Donnerstag zuvor war noch einmal die ganze Familie zusammen gekommen. Wir verbrachten einen sehr fröhlichen Abend miteinander. An Späßen und am Lachen mangelte es nie bei uns, auch nicht in diesen Stunden. So konnte mein Vater noch einmal das erfahren, was er die Jahre zuvor so schätzte: seine Familie, eine gute Stimmung, Humor.
Noch etwas wollte ich für meinen Vater tun. Da meine Eltern jung geheiratet hatten, war nie genug Geld da für Reisen. Alles ging für das Leben und die Ausbildung von uns Kindern auf. Am 20. Hochzeitstag aber leisteten sich die Eltern eine Kulturreise nach Süditalien, etwas später eine Reise nach Rom. Mein Vater genoss diese Reisen und fotografierte begeistert. Diese Dias sahen wir uns noch einmal an. Er sollte seine beiden Reisen, die schönen, leichten, bunten Eindrücke zum letzten Mal nachempfinden können, sich darüber freuen dürfen, mitten in seiner schwierigen Lage.
Zeit nützen und gestalten
Heute bin ich sehr froh, dass ich die Augen rechtzeitig geöffnet bekommen und die verbleibende Zeit genützt und gestaltet habe. Wie sehr es mir dabei mit meinen „Aktionen“ gelungen ist, meinem Vater, er war damals erst 51 Jahre alt, einen dankbaren Blick auf das Leben zu ermöglichen, weiß ich nicht. Vielleicht haben sie ein kleines bisschen zu seinem bewussten Abschied-Nehmen und zu seinem erstaunlichen Loslassen-Können beigetragen: „Ja, ja, jetzt ist es mir recht“, hat er, obwohl seit Jahren durch einen Gehirnschlag sprachlos, in seiner letzten Nacht immer wieder gesagt.
Seit dieser „Abschiedszeit“ habe ich gelernt, jeden Tag als Geschenk zu sehen. Ich habe unmittelbar erfahren, dass unser Leben „gestundete Zeit“ ist: Morgen schon kann ich nicht mehr sein! Diese bewusste Wahrnehmung, dass meine Zeit begrenzt ist, hat mir einen neuen, tieferen Zugang zu meinem Leben eröffnet, mir geholfen, den Blick zu schärfen für jene Personen, Bereiche, Dimensionen, Gaben und Aufgaben, die das eigene Leben bereichern, authentisch machen.
Ein weises Herz gewinnen
Eine ähnliche Erfahrung ist mir in den Psalmen begegnet. Im Psalm 90 blickt der Beter nüchtern auf seine „gestundete“, aber zugleich geschenkte Zeit: „Von Jahr zu Jahr säst du die Menschen aus; sie gleichen dem sprossenden Gras. Am Morgen grünt es und blüht, am Abend wird es geschnitten und welkt . . . wir beenden unsere Jahre wie einen Seufzer. Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig . . . rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin. Uns’re Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz.“
Auch Thomas von Aquin, einer der großen Denker des Christentums, hat schon vor über 700 Jahren ein feines Gespür für den guten Umgang mit der eigenen Zeit und dem eigenen Leben entwickelt. So empfahl er jenen, die schon damals über „zu wenig Zeit“ klagten, im Stress inne zu halten und sich die Frage zu stellen, was man noch gerne tun möchte, wüsste man, dass in einer Stunde das Leben zu Ende sei. Vieles wird sich dabei als gar nicht so wichtig herausstellen und das wirklich Wichtige wiederum wird sich sehr deutlich zeigen.
Nichts mehr aufschieben
Der Blick auf die eigene „begrenzte Zeit“ vermag jeden von uns auf seine Weise herauszufordern. Er ermutigt, vielleicht heute damit zu beginnen, dem Partner und den Kindern zu sagen und zu zeigen, wie schön es ist, dass es sie gibt, lau gewordene Beziehungen zu beleben, Anstehendes zu regeln, Gutes beim Wort zu nennen, kleine Worte zu finden, die Freude machen, Schritte der Versöhnung zu wagen, sich selbst oder anderen etwas zu gönnen, jeden Tag gut mit sich, den anderen und Gott abzuschließen und dankbar jeden neuen Tag zu beginnen.
Stefan Schlager, Referent für Theologische Erwachsenenbildung der Diözese Linz, verheiratet und Vater einer Tochter, wohnt in Pichl/Wels.