Für viele Menschen ist es das Schwerste, das sie sich vorstellen können: dass ein Kind stirbt. Besonders schwer ist es wohl, wenn sie ihr Kind durch Suizid verloren haben. Christine Buchberger und ihr Mann erlebten es vor elf Jahren, als ihr Sohn Paul in Bosnien starb. Heute will Christine anderen Eltern helfen.
Es ist eine Stelle im Herzen, da wächst nichts mehr. Heute noch empfindet es Christine Buchberger so. Mehr als ein Jahrzehnt ist es her, dass an jenem Dienstag, den 26. Juli 2005, zu Mittag gegen eins der Anruf des Kommandanten der österreichischen EUFOR-Soldaten im bosnischen Tuszla kam. „Ihr Sohn Paul hat sich erschossen.“
Die Welt blieb stehen. Nicht einmal eine Woche war Paul in Bosnien gewesen. Sie, ihr Mann, auch der jüngere Bruder Emil haben Paul nicht mehr gesehen, auch nicht, als der Sarg aus dem Flugzeug gehoben wurde. Das tut Christine heute leid: „Wir hätten sagen sollen, dass sie den Sarg aufmachen sollen.“ So kommt diese Vorstellung immer wieder, dass er vielleicht doch nicht drinnenlag.
Wie vertrieben aus dem Paradies erlebte sich Christine. Alles war so gut gewesen bis dahin. Das Haus mit dem Garten in Linz-Neue Heimat. Die erfüllende Arbeit. Paul und der vier Jahre jüngere Emil waren Wunschkinder.
Alles war gut – bis zu diesem Tag.
„Warum?“ Auf diese Frage wird sie nie Antwort finden, ist Christine überzeugt. Das Haus mit dem gepflegten Garten, die Halbtagsstelle als Sozialarbeiterin, das Leben in der Familie – es ist schön. Doch diese ganz tiefe Freude, die vollkommene Zustimmung zur Welt, wie sie es früher manchmal auf einem Berggipfel empfand, wird nicht mehr zurückkommen. Paul fehlt.
Pauls Weg
Paul war ein lustiges Kind gewesen. Im Nachhinein tritt auch die andere Seite deutlicher zu Tage: Wie still er oft war. Hätten wir mehr darauf achten müssen? Nicht einmal in der Pubertät hat er rebelliert. Ein Zeichen? Dann wurde es in der Schule schwierig. Die vier Jahre im Gymnasium. Der Wechsel in die HTL, die er schließlich abgebrochen hat. Zivildienst oder Bundesheer? Im letzten Moment entschied sich Paul wieder anders. Dann doch das Bundesheer. Er erwarb dort den LKW-Führerschein. Schließlich entschied er sich, für die Eltern völlig überraschend, für den Bosnieneinsatz beim Heer – und kam nicht mehr.
Nächste Tage
Wie sie nach dem Anruf aus Tuszla heimgekommen ist, weiß Christine nicht mehr. Wie automatisch besorgte sie die notwendigen Handgriffe. Haushalt. Bald auch wieder die Arbeit. Wenigstens ein paar Stunden Abstand von den kreisenden Gedanken, immer um die eine Frage: Warum? Da gab es Enttäuschungen. Auch in der Pfarre fand sie nicht wirklich Hilfe – bis sie auf eine Selbsthilfegruppe, die monatlich im Haus der Frau in Linz zusammenkam, aufmerksam gemacht wurde. Dort treffen sich Eltern, die mit dem Tod eines Kindes zurechtkommen müssen. Sehnsüchtig wartete Christine auf diesen Tag, wo man endlich reden konnte – und auch weinen.
Reden hilft
Das sollten Menschen wissen, erzählt Christine: dass Eltern, die ihr Kind verloren haben, darüber reden möchten. Man muss dann halt aushalten, wenn die Trauer aus einem herausbricht. Trauer kann man nicht wegschieben, man muss sie durchleben. „Ich bin nicht allein.“ Das ist die wichtigste Erfahrung, die geholfen hat. Inzwischen leiten Christine Buchberger und Martha Gayer zu zweit eine eigene Selbsthilfegruppe für Eltern, deren Kinder Suizid begangen haben. Es ist ein Irrglaube, wenn Leute meinen, nach einem Jahr oder doch nach zwei Jahren müsste die Trauer ein Ende haben. Der Schmerz bleibt – über die Jahre hin. Er wandelt sich, aber er bleibt, ist Christines Erfahrung. Und die Selbsthilfegruppe ist der Ort, an dem die Trauer ihre Zeit bekommt und wo man sich auch mit seinen Schuldgefühlen aussprechen kann: Was habe ich bloß versäumt? Es sind so gute Eltern da, und ihr Kind hat sich auch das Leben genommen. Christine erzählt von einer 80-jährigen Frau, die kam, als sie ihren Sohn verloren hatte. Sie war so zerbrechlich. Und jetzt das. Man muss nicht immer selbst erzählen. Allein, dass man dabei ist, hilft anderen, bei denen die Wunde in der Seele noch ganz frisch ist. Es geht in der Gruppe nicht immer nur traurig zu. Manchmal wird es sogar lustig. Enttäuscht war Christine auch von Gott – weil ihre Familie hinausgestoßen wurde aus dem Paradies. Bis dahin war Gott für sie immer mit den schönen Lebenserfahrungen verknüpft gewesen. Jetzt: mit dem Schmerz. Manchmal fühlt sie sich immer noch fehl am Platz, etwa, wenn Eltern über ihre Kinder reden. Das hält sie bisweilen schwer aus. Das ist jetzt mein Leben, versucht sie es dennoch anzunehmen.
Das Leben danach
Manches ist anders geworden, erzählt Christine: Dankbarer ist sie geworden für das Schöne, auch für Kleinigkeiten. Es ist nicht alles selbstverständlich. Vor allem das: „Ich habe keine Angst mehr – nicht vor dem Altwerden, auch nicht vor dem Tod.“ Gewiss: Sie möchte leben, aber Angst hat sie nicht mehr. Wenn sie in Pension ist, möchte sie dafür arbeiten, dass für Hinterbliebene mehr getan wird. Milder, sagt sie, sei sie geworden. „Als Eltern haben wir uns auch geändert“, erzählt Christine. Da war am Anfang viel Angst um Emil da – dass ihm nichts passiert. Jetzt lebt er in Wien – und es ist gut, dass er seinen eigenen Weg gefunden hat.
Es gibt ein Leben vor dem Suizid des Kindes, aber es gibt auch ein Leben danach, weiß sie. Durch das Kennenlernen anderer Betroffener wird es ein wenig leichter, dieses neue Leben zu meistern. Es geht weiter, aber anders.
Für Trauernde nach dem Tod eines Kindes
Die Selbsthilfegruppe Trauernde Eltern und Geschwister wurde 1989 von Josefine Mülleder und Hanna Koch gegründet. Beide hatten ein Kind verloren und in ihrer Umgebung nicht die Hilfe gefunden, die sie gesucht haben. Christine Buchberger und Martha Gayer leiten eine eigene Selbsthilfegruppe für Trauernde nach dem Suizid eines Kindes. Die Treffen finden im Haus der Frau in Linz, Volksgartenstraße 18, statt.
- www.trauernde-eltern.at