Der 26. April 1986 ist aufgrund des atomaren Unfalls in Tschernobyl ein historisches Datum. Nur haben das die allermeisten Menschen erst nach und nach gemerkt. Denn die Verantwortlichen und die Politiker der Sowjetunion haben das wahre Ausmaß der Katastrophe nur zögernd eingestanden.
Es war der Frühling, in dem Kühe kein frisches Gras fressen sollten, um die Milch nicht zu verseuchen. Es war der Frühling, in dem Kinder nicht ins Freie durften und Pilzsammler zu Hause blieben, weil draußen die unsichtbare Bedrohung lauerte. Und es war der Frühling, in dem das Element Cäsium (genauer: Cäsium 137) in aller Munde war.
Die Wolke
Die Bedrohung kam still mit dem Wind über den Eisernen Vorhang: Ein schwedisches Atomkraftwerk (AKW) registrierte zwei Tage nach dem Super-GAU (Größter anzunehmender Unfall) gestiegene Strahlungswerte in 1200 Kilometer Entfernung. Die Nachrichtensperre der Sowjets bekam erst danach Risse. Da war die atomare Wolke schon im Westen. Ausgelöst hatten den Unfall Konstruktionsfehler und Fahrlässigkeit bei einem Test. Die Verantwortlichen spielten das Ausmaß dem Kreml gegenüber herunter. Dieser tat sich dann schwer, das Versagen dem Westen gegenüber einzugestehen.
Natürlich war die Strahlenbelastung in der unmittelbaren Umgebung des Kraftwerks am stärksten, doch der Wind verteilte das Problem. Österreich gehörte zu den am meisten betroffenen Gebieten Mitteleuropas. War die Abstimmung über das eigene AKW Zwentendorf 1978 nur knapp dagegen ausgegangen, gab es nach Tschernobyl keine reellen politischen Chance für Kernkraft in Österreich.
Reaktionen
In anderen Staaten wuchs zwar die Gegnerschaft, aber zum Beispiel Deutschland brauchte lange für die Entscheidung für den Atomausstieg, der bis 2022 vollzogen sein soll. Erst der Unfall im japanischen AKW Fukushima 2011 brachte eine AKW-Laufzeitverlängerung zu Fall. In Frankreich geht es derzeit bestenfalls um eine Senkung des Atomstromanteils. In Tschechien sind Pläne für den Kernkraftausbau im Umlauf. Da der Strompreis niedrig ist und die Kosten für AKWs hoch sind, lohnt sich das ohne staatliche Subventionen nicht. Das Ziel von AKW-Gegnern ist es, über Gerichtsentscheide Subventionen zu verhindern.
Zurück zu Tschernobyl, für das heute die Ukraine zuständig ist: Wie viele Menschen durch den Unfall den Tod fanden, ist umstritten: Es werden – je nach Berechnung – Zahlen zwischen 8000, 25.000 und über 100.000 Menschen genannt, die direkt und indirekt in Folge der Katastrophe starben, vor allem an Krebs. Das Kraftwerk selbst wurde erst im Jahr 2000 völlig stillgelegt. Mit großem Aufwand muss der strahlende Kadaver gesichert werden. Eine neue Hülle soll für 100 Jahre halten, dann müssen sich künftige Generationen etwas einfallen lassen. Tschernobyl ist ein schweres und ein sehr langlebiges Erbe.
Zur Sache
Gedenken in Rom
Zum 30. Jahrestag der Atomkatastrophe von Tschernobyl ist diese Woche eine Gruppe von Helfern und Geistlichen aus der Ukraine zur Papstaudienz in Rom. Neben den Vertretern verschiedener Kirchen sind zahlreiche Liquidatoren aus der Ukraine und Weißrussland gekommen. Liquidatoren wurden die bis zu 850.000 Helfer wie Sanitäter, Krankenschwestern, Soldaten oder Feuerwehrleute genannt, die nach dem Unglück radioaktiven Schutt beseitigten und durch ihren lebensgefährlichen Einsatz Schlimmeres verhinderten. Von ihnen leben heute noch etwa 300.000 in Weißrussland und der Ukraine, weitere 250.000 in Russland und anderen Staaten der früheren Sowjetunion. Die 50-köpfige Delegation will in Rom ein Zeichen gegen das Verdrängen und Vergessen des Atomunfalls und seiner Folgen setzen. In der Basilika Santa Maria Maggiore findet ein ökumenischer Gottesdienst statt.
AKW-Katastrophen
Die Reaktorexplosion von Tschernobyl gilt als der größte AKW-Unfall. Er war aber schon damals nicht der einzige und blieb es auch nicht. Zu den großen Unfällen zählen:
- 1957 kam es in einem Reaktor in Sellafield (GB) zu einem Brand, wobei Radioaktivität freigesetzt wurde.
- Ebenfalls 1957 ereignete sich eine Explosion in der russischen Atom-Anlage von Majak.
- 1979 kam es zu einem Kernschmelzunfall im Atomkraftwerk von Harrisburg (Pennsylvania, USA) mit weitreichenden Verstrahlungen im Umkreis.
- 2011 ereignete sich in Folge eines Erdbebens eine Unfallserie im AKW Fukushima (Japan). Radioaktivität trat aus, 170.000 Menschen werden evakuiert. Bisher ist von über 600 Toten die Rede.