- Kirchenzeitung der Diözese Linz, Karl-Heinz Fleckenstein
Über die verborgenen drei Jahrzehnte Jesu in seiner Heimatstadt schweigt sich das Neue Testament aus. Aber archäologische Ausgrabungen geben Einblick in das Alltagsleben von Nazaret.Wir dürfen davon ausgehen, dass Jesus ein ganz normales Leben einer jüdischen Familie führte. Wie könnte man sonst die Reaktion der Leute in der Synagoge von Nazaret verstehen, als diese bei seinem ersten öffentlichen Auftreten voller Erstaunen ausriefen: „Ist das nicht der Sohn Josefs (Lk 4, 22)?“In der Krypta unter der Kirche des heiligen Josef befindet sich eine aus dem Fels geschlagene Wohnhöhle. Hier hat nach der Tradition Jesus im Haus des Nährvaters Josef seine stillen Jugendjahre verbracht.Von dort aus gingen Josef und sein Sohn Jesus ihrer Arbeit als Handwerker nach. Die deutsche Übersetzung Zimmermann ist viel zu eng. Ein Arbeiter damals war einer, der sich in allen handwerklichen Dingen auskannte, handelte es sich um den Bau eines Hauses, um das Schlagen einer Zisterne, oder gar um die Arbeit an dem Amphitheater in der nahen Stadt Zippori.Als im Jahre 1955 die provisorische Notkirche über der Verkündigungsgrotte abgerissen wurde, um der neuen Basilika Platz zu machen, begann Professor B. Bagatti vom Jerusalemer Bibelinstitut der Franziskaner dort mit seinen archäologischen Sondierungsarbeiten. Er tat dies mit einer gewissen inneren Beklem-mung, wie er mir einmal in einem persönlichen Gespräch gestand; denn bis dahin wusste man nur, dass sich dort Felsenhöhlen befanden. Und es gab Stimmen, die mit Autorität behaupteten, es müsse sich dabei um eine Grabanlage handeln. Bagatti war sich vom ersten Spatenstich an bewusst, dass die jahrhundertelange Tradition der Verkündigungsgrotte wie ein Kartenhaus zusammenfallen würde, sollte er dort Skelette finden. Lagen doch jüdische Gräber immer außerhalb einer Siedlung. Doch die Felsenhöhlen entpuppten sich als flaschenförmige Getreidesilos aus der herodianischen Zeit. Weitere Felsgrotten dienten als Zisternen, Weinkeller, andere enthielten Mühlsteine. Und damit war der überzeugende Beweis erbracht, dass die Verkündigungsgrotte mitten im Wohnbezirk des antiken Nazaret lag. Das Reich von Maria war ihr Heim: Brot backen, die Erziehung der Kinder . . . Täglich ging sie mit den anderen Frauen zum Dorfbrunnen, um Wasser für die Familie zu schöpfen. Sie füllten ihre Tonkrüge, die sie auf dem Kopf trugen, mit dem kostbaren Nass. Während sie anstanden und warteten, bis sie an die Reihe kamen, wurde viel geredet. Man erzählte sich Neuigkeiten und teilte sich Vertraulichkeiten mit. (Vgl. Gen 24, 27). Hier entstand täglich die „mündliche Zeitung“.So ist es eigentlich gar nicht verwunderlich, wenn nach dem apokryphen Jakobus-Evangelium die sich erste Verkündigung des Engels in Nazaret am Brunnen der Stadt ereignete.Eine Aufsehen erregende Entdeckung am „Haus Mariens“ machte Bagatti bei dem Säulenfragment einer synagogalen Kirche aus dem 2. bis 3. Jahrhundert. Ein Graffito zeigte die griechische Inschrift „XE MARIA“, den Gruß des Engels „Sei gegrüßt Maria“. Mit dieser Inschrift begegnet uns das älteste „Ave Maria“ der Welt.