Das Dorf Taybeh mit seinem Bibelhaus: Geheimtipp auf der Lesereise durch das Land der Bibel
Ausgabe: 2004/35
24.08.2004 - Karl-Heinz Fleckenstein
Nur wenige Pilgergruppen kommen nach Taybeh. Schade, meint KIZ-Reiseleiter Karl-Heinz Fleckenstein, denn in dem christlichen Dorf ist heute noch die Lebenswelt Jesu „zum Greifen nahe“.
Da Jesus sich in aller Abgeschiedenheit auf seine Blutstaufe in Jerusalem vorbereiten wollte, zog es sich mit seinen Jüngern für eine gewisse Zeit „in eine Stadt namens Ephraim“ zurück (Joh 11, 54). Was wissen wir über den Ort und wo ist er heute zu suchen? Auf diese Frage bemühte ich mich, durch eine biblisch-archäologische Forschungsarbeit eine Antwort zu finden. Der beste Kandidat dafür schien mir das bis heute christlich gebliebene Dorf Taybeh, 30 km im Nordosten von Jerusalem. Der damalige Pfarrer, Jonny Sansour, zeigte sich für mein Anliegen aufgeschlossen und wurde mir ein guter „Wegweiser“.Auf einer kleinen Anhöhe am Fuße des Dorfhügels zeigte er mir die Reste einer Basilika aus dem vierten Jahrhundert, später hatten die Kreuzfahrer darüber eine einschiffige Kirche gebaut.
Auf dem höchsten Punkt der Siedlung liegt die Ruine eines kleinen Kreuzfahrerkastells. Darunter soll sich ein Netz antiker Fluchtstollen zur nahen Wüste befinden. Auf diese Weise hatte die Bevölkerung die Möglichkeit, in Zeiten der Bedrängnis in der Wildnis unterzutauchen. Das erklärt vermutlich auch, dass die Dorfbewohner jeder Art von Zwangsmuslimisierung entgehen konnten.
Taybeh ist bis heute wegen seiner Gastfreundschaft bekannt. Wohl der berühmteste Gast war Charles des Foucauld, der in den Jahren 1889 und 1898 während seiner Einkehrtage dort die Einsicht gewann, dass das Evangelium sein Leben werden musste, und zwar in Verbindung von Arbeit und kontemplativem Leben. Aus diesem Geist der Gastlichkeit heraus hatte Pfarrer Sansour in Taybeh ein kleines Pilgerhospiz errichten lassen.
Daneben befindet sich das sogenannte Bibelhaus. An seiner Türschwelle fiel mir eine Vertiefung auf. Diese war während der Nacht die einzige Verbindung zwischen den Bewohnern drinnen und der Außenwelt. Schon das Hohe Lied der Liebe erinnert daran, wenn es die Braut sprechen lässt: „Mein Geliebter steckte die Hand durch die Luke; da bebte mein Herz ihm entgegen. Ich stand auf, dem Geliebten zu öffnen.“ (Hld 5, 4f.)Das Innere des Hauses ist in zwei Bereiche unterteilt: Unten eine Grotte, die als Stall für das Kleinvieh und den Esel diente. Auf vier Stufen stieg ich zu dem Obergemach hinauf. Ein einziger Raum: Küche und Schlafzimmer zugleich. Während des Tages wurden die Matten aus Bast in dem Bett-Kasten gestapelt. Darauf stand die Lampe für die Nacht. Bei ihrem Anblick erhellte sich mir das Wort der Schrift: „Zündet man etwa ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber oder stellt es unter das Bett?“ (Mk 4, 21)Des Nachts breitete man die Matten auf dem Fußboden aus.
Die ganze Familie, Vater, Mutter und die zahlreichen Kinder, schliefen wie Heringe geschlichtet nebeneinander. Und da kommt in einem der Gleichnisse Jesu ausgerechnet um Mitternacht ein Freund und klopft nervös an die Tür. Er bittet um drei Brote, weil unerwartet ein Gast eingetroffen ist. „Lass mich in Ruhe!“ ist die Antwort von drinnen. „Die Tür ist schon verschlossen, und meine Kinder schlafen bei mir.“ (vgl. Lk 11, 5–8) In einer Ecke entdeckte ich einen alten, ausgetrockneten Weinschlauch. Unwillkürlich drängte sich mir das Wort auf: „Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche. Sonst reißen die Schläuche.“ (Mt 7, 19)