Immer mehr Pfarren laden die Schulanfänger zu einem speziellen Segnungsgottesdienst ein. Die Zustimmung ist groß. Rituale sind wieder gefragt
Es ist Sonntag. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern setzt sich zum Mittagstisch. Die Tischkerze wird angezündet. Sie reichen sich die Hände, ein kleiner Kreis entsteht. Die Tochter betet eine kurzes Dankgebet, ein lautes „Mahlzeit“ tönt in den Raum. Jetzt beginnt das gemeinsame Mittagessen. So ist das jeden Sonntag. Ein kleines Ritual. Es unterbricht das Alltagsgetriebe. Einmal kurz durchschnaufen, innehalten, danken, einander spüren. Es braucht keine weitere Erklärung, alle kennen sich aus.
Neu erwachte Sehnsucht
Rituale erfreuen sich heute wieder einer zunehmenden Wertschätzung. Das war nicht immer so. Gerade die 68er-Generation lehnte sich gegen jede Art von Zeremoniell und Ritual auf. Sie empfand diese festgelegten Handlungen aufgesetzt, leer und langweilig. Jeder Mensch sollte gewissermaßen sein Leben selbst erfinden, für Rituale war da kein Platz. Heute erwacht ein neues Gespür für den inneren Wert von Ritualen. In den unterschiedlichsten Lebensbereichen wird dieses Anliegen aufgegriffen, es gibt Abschieds- und Trauerrituale, Rituale zu Tageszeiten, Paarrituale, Segensrituale, Versöhnungsrituale, etc. Dass dieses verschüttete Interesse an rituellen Formen wieder erwacht, ist verständlich. Denn Rituale gehören zu unserem Menschsein und sie haben eine wichtige Funktion in unserem Zusammenleben.
In allen Kulturen und Religionen gibt es ausgeprägte rituelle Formen. Auffallend ist, dass Menschen heute weit über den christlich-religiösen Bereich hinaus danach Ausschau halten. Anscheinend wird dieses Bedürfnis in unseren Kirchen zu wenig lebensnah wahrgenommen. Vielleicht ist der aktuelle Trend auch eine Antwort auf das Übermaß an Anforderungen und Entscheidungen, die der moderne Alltag mit sich bringt.
Halt und Stütze
Rituale geben dem Tages- oder Lebensablauf eine gewisse Ordnung und Klarheit. In ihnen finden wir Stütze und Halt, wenn wir mit Schwierigkeiten, Verlusten oder mit neuen, ungewohnten Lebenssituationen konfrontiert sind, wenn Veränderungen und Umbrüche im Leben stattfinden. Das erste Kind ist im Kommen, ein Umzug oder ein schwieriger Abschied stehen an. Das bringt unser Leben schon einmal durcheinander. Rituale können helfen, den Übergang zu gestalten und zu bewältigen. Sie sind vergleichbar mit einer Brücke, die uns von einem Ufer zum anderen führt. Dabei kann es sich um kleine Übergänge handeln wie vom Tag zur Nacht oder vom Arbeitstag in den Feierabend. Auch der Jahreskreis hat in Verbindung mit dem Kirchenjahr rituelle Knotenpunkte, wie etwa das Erntedankfest oder den Advent mit seinen Bräuchen.
Am einprägsamsten sind sicherlich die Einschnitte im eigenen, ganz persönlichen Leben. Manchmal sind es einmalige und besondere Erfahrungen: Menschen betreten einen neuen Lebensabschnitt , sie verändern ihren Lebensort, ihren Status, ihre Lebensform etc. Diese biographischen Knotenpunkte feiern wir zum Teil in den Sakramenten wie Taufe oder Hochzeit. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Ereignisse, die in Ritualen entsprechend gestaltet werden können.
Gott und das Leben
Christliche Rituale wollen Gott als begleitende Kraft gerade auch an Lebensübergängen erfahrbar machen. Im Ritual wird Gottes Nähe und Beistand erhofft und erbeten. Das Ritual schafft einen sinnlich erfahrbaren Raum für die menschlich-göttliche Begegnung. Hier kann der Mensch Kraft und Zuversicht für die neue Lebenssituation schöpfen. Es ist Platz für all die gemischten Gefühle, die uns begleiten vor dem Neuen oder beim Abschied vom Bisherigen: Freude und Erwartungen, Angst und Zweifel, Schuld und Versagen, Dank und Zuversicht. Im Ritual wird unsere Lebensgeschichte zu einer Leben-Mit-Gott-Geschichte.
Was ist ein Ritual?
Das Wort Ritual steht in Zusammenhang mit Ritus, was im Sanskrit soviel wie „Grundordnung“ bedeutet. Das Ritual ist eine geordnete, festgelegte, wiederholbare, innerlich erfassbare Handlung mit einer tieferen symbolischen Bedeutung. Wir zünden eine Kerze meist nicht deswegen an, damit der Raum heller wird. Das Anzünden bedeutet mehr – etwa: ich hoffe für mein krankes Kind, ich setze mein Zutrauen in Gottes ewiges Lebenslicht. Erst die tiefere symbolische Bedeutung unterscheidet das Ritual von einer bloßen Gewohnheit. In meinem Handeln geht es um „mehr“, ich öffne mich und mein Leben auf Gottes Wirklichkeit hin. Wir können unterscheiden in säkulare, religiöse und christliche Rituale. Das christliche Ritual verknüpft die persönliche Lebensgeschichte mit dem Gott, der sich in Jesus gezeigt hat.
Buchtipp: Christiane Bundschuh-Schramm, Annedore Barbier-Piepenbrock, Judith Gaab: Rituale im Kreis des Lebens, verstehen-gestalten-erleben. Schwabenverlag.