Als Christen müssen wir hadern und zweifeln, fluchen und bewusst verstummen, wenn wir Menschen bleiben wollen. Weil wir nicht einem sinnlosen Schicksal ausgeliefert sein wollen.
Das Beben im Indischen Ozean hat unsere Sicherheiten erschüttert. Jetzt ist uns das Entsetzen ins Bewusstsein gebrannt: die Riesenwelle, die Menschen, Tiere, Dörfer, Hütten und Hotels erschlug. Den Reportern und Moderatoren merkt man manchmal ihre Hilflosigkeit an – und sie ist besser als ein Sensationsstil, der sich zu immer neuen Superlativen aufschwingt. Mehr als 150.000 Menschen – mit jedem einzelnen ist eine Welt untergegangen, mit Angehörigen und Freunden, Hoffnungen und Plänen. 150.000 Mal ein Weltuntergang! Sie sind nicht mehr hier, nicht mehr bei uns, die wir noch das wieder stille Meer sehen. Entseelte Leichname werden unter die Erde gebracht. An den wenigsten haftet noch der Name, sie hinterlassen ein Loch des Schweigens. Menschen kehren allein nach Hause, Fischer haben kein Boot mehr, Mütter keine Nahrung für sich und ihre Kinder und Kinder keine Väter und Mütter.
Ungebändigte Gewalt
Es drängt uns, angesichts des übermächtigen Wütens einer Naturgewalt, der Heimsuchung einen Sinn zu geben – und wir entdecken doch nur unsere Verwundbarkeit. Die Menschheit tanzt auf einem Vulkan. Wir leben in unserem Alltag von Voraussetzungen, die wir nicht garantieren können. Wir begreifen urplötzlich, dass die „Sintflut“, von der die Bibel erzählt, kein lebensferner Mythos ist, sondern eine wirkliche Erfahrung wiedergibt, die Menschen ergreift und ihre Abhängigkeit und Ohnmacht ans Tageslicht bringt: wenn die Natur ihre ungebändigte Gewalt zeigt in unvorstellbarem Ausmaß.
Der Wahn des Menschen, der meint, über die Natur herrschen zu können, zerplatzt wie eine Seifenblase. Was unsere Väter und Mütter im Glauben als bedrückend-wache Lebenserfahrung formuliert haben in dem Satz „Mitten im Leben sind wir mit dem Tod umfangen“ – und wir zur harmlosen Begräbnismelodie gemacht haben –, offenbart der Abgrund dieses tausendfachen Todes: die elementare und oft so abgeschottete Grenze unserer Existenz.
Religiöse Bilder
Angesichts einer so elementaren Erschütterung unserer Selbstverständlichkeiten ist es nicht verwunderlich, wenn sich religiöse Bilder aufdrängen. Eine „Kata-strophe biblischen Ausmaßes“ habe sich ereignet. „Sintflut“ titeln die einen, „Apokalypse“ sagen die anderen. Vom „Jüngsten Gericht“ wird ebenso gesprochen wie vom „Zorn Gottes“. Wer etwa die Naturkatastrophe vom Zorn Gottes verursacht sieht, mag zwar ein religiöser Mensch sein, auf Jesus Christus kann er sich nicht berufen. Dieser hat ein solches Denken zurückgewiesen. „Glaubt ihr denn?“, fragt er seine Zuhörer, „dass die 18, auf die der Turm in Siloah fiel und sie erschlug, schuldiger gewesen sind als alle anderen, die in Jerusalem wohnen? Ich sage euch: Nein! Alle sind Sünder und alle müssen umkehren.“ (Lukas 13, 1–5) Welche Anmaßung eines Nichtbetroffenen, zu wissen, wann und warum Gott andere straft! Wer vom zornigen Gott sprechen will, kann das nur im Bezug auf sich selbst tun – und auch dann nur so, dass er neben den zornigen und verborgenen immer auch den gnädigen, Mensch gewordenen Gott stellt.
Unbegreiflichkeit Gottes
Und im Fernseh-Interview wird gar Kardinal Schönborn von der Frage überrascht: „Warum lässt Gott das zu?“ Wer kann es nicht nachempfinden, wenn Menschen in einer solchen Lage an Gott zweifeln, ja verzweifeln? Wir sollten nicht meinen, Gott verteidigen zu müssen. Auch als Christen dürfen und müssen wir fragen, hadern und zweifeln, fluchen und bewusst verstummen, wenn wir Menschen bleiben wollen. Weil wir diese Welt verstehen wollen, unser Leben zu begreifen suchen und nicht einem sinnlosen Schicksal ausgeliefert sein wollen. Weil wir das Verstehen unseres Lebens einklagen möchten. Darum müssen wir einklagen. Darum müssen wir von Gott reden, vom Geheimnis unseres Lebens und dieser Welt. Sind wir denn nur kümmerliche Eintagsfliegen, vom Winde schnell verweht?Diesen Fragen uns zu stellen, das große „Warum“ hineinzuhalten in die Unbegreiflichkeit Gottes, ist besser als die nachträglichen Anklagen, die sich nun häufen als Versuch, der elementaren Hilflosigkeit ein Ventil zu verschaffen. Auch wenn wir darauf keine schlüssige Antwort finden, die wir mit uns herumtragen und herzeigen können, die unbeirrbare und grenzenlose Solidarität, die hoffentlich über diese Tage hinaus bleibt, der unermüdliche Einsatz von Helferinnen und Helfern, die großen und kleinen Spenden, die angekündigten Partnerschaften beim Wiederaufbau sind kräftige und mutige Lebenszeichen in dieser Welt des Todes.