Das eigene Leben in die Hand nehmen – dem Leben Gestalt geben (Teil 1)
Ausgabe: 2005/16, Scheurecker, Naturformen, Du, Mensch, komm heraus, Glaube und Leben, Meditation
21.04.2005
- Sr. Margret Heidi Scheurecker
Mit Naturformen konnte ich mich schon immer gut identifizieren. Wir Menschen sind ja Teil der Natur. Sie spiegelt uns die vielen, oft auch widersprüchlich anmutenden Facetten unserer eigenen Existenz. Sie schenkt uns ein Stück Selbsterkenntnis, ein Stück Selbstakzeptanz: Der Herbst spiegelt dir dein Älterwerden und tröstet dich durch die Symbolkraft seiner Früchte. Der Fluss mit seinen dahineilenden, immer neu sich formenden Wellen spiegelt dir dein Leben, das sich nicht festhalten lässt, das zur Veränderung drängt. Als mein Blick auf den sorgfältig geschlichteten Holzstoß fiel, bemerkte ich es sofort: Mein Holzscheit. Ich erkannte es, weil sich an einer Stelle die Rinde gelöst hatte und sich ein dunkler Spalt auftat. Ich ahnte: Hier wird jemand zum Vorschein kommen. Nein, ich wusste es: Jetzt ist die Zeit, dass ich aus meinem Versteck hervortrete. Klöster können bevorzugte Orte sein für ein unbewusstes Verschwinden-Wollen. Gott ruft aber keinen einzigen Menschen ins Dasein, damit dieser dann verschwindet! Klöster sind gedacht als Orte der Gottverbundenheit. Wenn sich der Mensch mit dem lebendigen Gott verbündet, wird er aus seinem Versteck ins Leben gerufen. Unweigerlich. Unvermeidbar. Und so geschah es. Tagelang, wochenlang hallte das Wort in meinem Innersten wider: „Komm heraus!“ (Joh 11, 43) Mit einem Mal ist es ja nicht getan – das Geborenwerden, das Hervorkommen. Zu unserer ersten Geburt konnten wir nicht allzu viel beitragen. Aber für unsere zweite Geburt, für die dritte, vierte . . . da müssen wir selbst arbeiten. Unvermeidbar. Wundere dich also nicht: Du musst von neuem geboren werden. (Joh 3, 7)Mit großem inneren Engagement, mit unglaublich ernster Freude habe ich an meiner zweiten Geburt gearbeitet. Leibhaftige Neuschöpfung. Auf die eigenen Füße kommen. Zu meinen Begabungen stehen. Ich wusste: Ich muss mein Leben in die Hand nehmen. Ganz real anfassen. Ich spürte: Tonerde, die gehört zu mir (Gen 2, 7 ). So habe ich mit den erdigen Händen meinem Leben, meinem Leib eine Gestalt gegeben. Liebevoll habe ich jedes Detail geformt. Ich bin eine Frau geworden. Staunend, noch etwas zögernd, aber aufgerichtet (Lk 13, 13), wage ich die ersten Schritte: Hier bin ich! Geheimnisvolles Leben: Ein Holzscheit spiegelt mir, wo ich stehe. Weiche Tonerde lockt mich zur bewussten Lebensgestaltung. Zeitlose biblische Bilder lebensbejahender Weltdeutung und kraftvoller Gotteserfahrung erweisen sich als absolut vertrauenswürdig. Ich stelle mein Bild dazu. Spiegel menschlicher Existenz. Ansporn, Trost auf dem langen Weg des Geborenwerdens.
Meditation
Gott, öffne mir die Augen, mach weit meinen Blick und mein Interesse, damit ich sehen kann, was ich noch nicht erkenne.
Gott, gib mir ein großzügiges Herz, das sich deinem Wort überlässt und zu tun wagt, was es noch nicht getan hat.
Gott, ich weiß, dass ich nur lebe, wenn ich mich von dir rufen und verändern lasse.
Sr. Margret Heidi Scheurecker
Zur Person
Sr. Margret Heidi Scheurecker 1955 geboren, 1973 Ordenseintritt, seit 1980 Kunst- und Werkerzieherin, 1994/95 Neuorientierung mit Hilfe intensiver spiritueller und psychotherapeutischer Begleitung, seither – neben dem Unterricht und der Arbeit mit Erwachsenen – gestalterisch tätig: am liebsten mit Ton, Holz, Stein.