Kunst ist das Gestalten einer kleinen Welt, um die große zu begreifen
Ausgabe: 2005/19, Die Frau im Weizen, Scheurecker, Dem Leben Gestalt geben,
10.05.2005 - Sr. Margret Heidi Scheurecker
Ich mag große, runde, einfache Schalen aus Holz, aus Glas, aus Ton . . . Ich kann mich kaum satt sehen an diesen entschiedenen, kraftvollen Formen, die klar sagen, was sie zu tun haben: das Gute aufnehmen und anbieten. Saftige Pfirsiche und Weintrauben, einen noch warmen, duftenden Laib Brot, Vorräte für den Winter – Äpfel, Nüsse, bunte Zierkürbisse . . . Eine kreisförmige Schale spiegelt mir das Ganze, das gesamte geheimnisvolle Sein: den weiten Weltenraum, unseren Erdball, den Schauplatz menschlichen Lebens, das sich auch einmal runden wird. Meine Schale habe ich aus dunklem, erdfarbenem Ton geformt. In der Mitte – fest verbunden mit dem Schalengrund – steht die Frau, dunkel wie die Erde. „Frau im Weizen“ sage ich zu ihr. Denn wenn ich etwas keimen und wachsen sehen will, bedecke ich den Boden der Schale mit Erde und säe Weizenkörner. Ein wunderbares Schau-Spiel, dem jungen Grün bei seiner Entfaltung zusehen zu können! Kunst – denke ich mir manchmal – ist eigentlich wie Spielzeug, speziell für Erwachsene: Hantieren, Drehen und Wenden, Schauen, Benennen . . . Gestalten einer kleinen Welt, um die große irgendwie begreifen, deuten, in ihr einen Sinn finden zu können. Menschen, die nichts mehr ausprobieren wollen, die nicht mehr spielen können, die sich ihren Reim auf die Welt schon gemacht haben, sagen dann: Ich verstehe nichts von Kunst. Lass mich da heraus. Und doch frag ich vorsichtig: Was ist diese Schale für dich? Was spiegelt sie dir? Kannst du dich wiederfinden in dieser Form? Lass sie kommen, deine Gedanken, deine Gefühle. Nimm sie in die Hand, schau sie an, benenne sie . . . Lehne dich zurück. Lass dir Zeit . . . „Mir fiel als Erstes die Kreuzform auf – mitten im hellen Grün: ein österliches Bild.“„Eine kraftvolle Leibgebärde. Die hat nichts Depressives.“„Die Frau als Fruchtbarkeitssymbol, wie in allen frühen Kulturen der Menschheit.“ „Der anthropos – der griechische Begriff für Mensch – der Aufgerichtete, der seinen Blick der Sonne zuwendet, im Gegensatz zum Tier, das Richtung Boden orientiert ist.“ „So möchte ich auch dastehen – aufgerichtet, ausgerichtet nach oben, gut verwurzelt im Grund, empfangend und gebend, offen und frei. Das Herz nicht verstecken, nicht schützen müssen . . . “ „Leben ist doch Geschenk, wie das Keimen und Wachsen des Weizens, man muss das wahrnehmen und annehmen können. Die Hände öffnen für dieses Glück – wie die dunkle, geheimnisvolle Frau . . . “ „Da ist die Frische des Schöpfungsmorgens: Das erste Licht! Freudige Begrüßung allen Seins und meines konkreten Daseins! Ich finde sie wunderbar: Die große Schale mit der Frau im Weizen.“