Wahrnehmen, auch Unscheinbares, es dem Tod durch Nicht-beachtet-Werden entreißen
Ausgabe: 2005/20, Scheurecker, Blick für die Nähe, Dem Leben Gestalt geben, Meditation,
19.05.2005 - Sr. Margret Heidi Scheurecker
„Du hast ja gar keinen Fernseher!“ Fassungslos schaut mich mein Neffe an. „Was machst du dann am Abend?“ Ich muss lachen. „Schau“, sage ich, „am Abend habe ich doch gar keine Zeit zum Fernsehen. Wann sollen denn meine Tonfiguren entstehen?“ „Aber das lässt sich doch so nebenbei während des Fernsehens machen!“ „Nein“, sage ich nun ernst und entschieden, „nein, nebenbei geht das nicht!“ Am liebsten arbeite ich auf dem Boden. Ich ziehe den alten Pullover und die weite Hose an und setze mich auf den Teppich. Ich gehe zu Boden, um auf den Grund zu kommen. Manchmal ist der Weg lang, manchmal ist er kürzer: Der Weg von der Zerstreutheit zur Konzentration. Das Klopfen und Kneten der Tonmasse hilft mir beim Ruhigwerden. Wie ein anschmiegsamer, weicher Ball liegt der Ton in meiner Hand. Zärtliche Gefühle erwachen . . . Ich denke nicht. Ich plane nicht. Ich lasse meine Finger arbeiten – zuverlässige, bewährte Werkzeuge. Das Unbewusste fließt durch meine Hände, bewegt meine Finger . . . berührt das Herz. Das Unerwartete wird sichtbar, greifbar – vorausgesetzt: Mein manipulierendes, ach so kluges Ich lässt es zu. Dann kann die Überraschung groß sein! Diese Gestaltungserfahrung entspricht meiner Seinserfahrung – meiner Selbsterfahrung, meiner Lebens- und Gotteserfahrung: Du musst dich überraschen lassen! Leg dich nicht allzu sehr fest! Öffne dich! Das Leben ist immer neu, größer, reicher, anders . . . Gott ist immer der Andere. Sonst wäre Gott nicht Gott. Diese Erfahrung mag schmerzen, aber sie hält dich lebendig. Eine einzige Tonfigur und viele überraschende, gegensätzliche Facetten – je nachdem, wie man die Figur dreht und wendet: Spiegelbilder meiner Lebens- und Familiengeschichte. Eine Frau kauert am Boden. Rafft sie ein Kind an sich? Eine Sitzende liebkost ihr Kleines. Dramatik und Ruhe. Raue Schale, weicher Kern. Eine monumentale, kraftvolle und doch schlichte, handliche Form. Gut liegt sie in der Hand. Aus meiner Hand, aus meiner Welt soll kein Mensch herausfallen. In meiner Welt soll niemand vergessen sein: Ein Wort . . . ein Brief . . . eine E-Mail-Nachricht . . . ein Gespräch am Telefon . . . stehen bleiben zwischen Tür und Angel . . . eine spontane Einladung: Komm mit zum Essen! . . . Ich bin bereit, mich tief zu bücken, um das Unscheinbare wahrzunehmen, es dem Tod durch Nicht-beachtet-Werden zu entreißen. Weil du bist, darf ich dich nicht übersehen! Nein, Fern-Seher habe ich keinen. Lieber ist mir der Blick für die Nähe: das tastende Begreifen der realen Dinge, das Berührtwerden durch den konkreten Menschen. Auch wenn es schmerzt. Doch so bleib’ ich lebendig – und freudefähig!
Meditation
Freude entsteigt der Traurigkeit. Im Fallen bin ich zum Auferstehen bereit. Regungslos still wie die Erde bin ich. Die Einsame birgt das Kind bei sich. Blickberührung, ein Donnerschlag, der den Himmel erreicht.
Sr. Margret Heidi Scheurecker(nach einem Gedicht des Persers M. D. Rumi, 13. Jahrhundert)