„Wenn ich prophetisch reden könnte . . . hätte aber die Liebe nicht“ – die Aufgabe der Prophetie in der Gemeinde
Ausgabe: 2006/04, Prophetin, Apostelamt, Glaube und Leben, Neues Testament,
25.01.2006
Das prophetische Amt ist in der Urkirche mit dem Apostelamt das höchste, auch wenn es – Gott sei Dank – nie zu einem „organisierten“ Kirchenamt gemacht werden konnte.
Auch das Neue Testament kennt Prophetinnen: Elisabet erkennt Jesus prophetisch (Lk 1, 41–45), Hanna, die Prophetin im Jerusalemer Tempel (Lk 2, 36–38), die prophetisch sprechende Maria des Magnifikats (Lk 1, 46–55), die prophetischen Töchter des Philippus in Caesarea (Apg 21, 9) und die prophetisch redenden Frauen in Korinth (1 Kor 11, 5). Paulus lässt deutlich erkennen, dass Frauen mit prophetischem Charisma zum Bestandteil der Gemeinden gehören und dass sie eine wichtige Rolle spielen.
Das eine setzt das andere voraus. Derselbe Paulus, der den Frauen das Dazwischenreden und -fragen untersagt, weil es die Friedensordnung des Gottesdienstes stört (1 Kor 14, 34f.), derselbe Paulus setzt dabei voraus, dass der Geist Gottes nicht nur Männer, sondern auch Frauen mit dem Geiste der Prophetie erfüllt. Wenn man also die falsche, gnostische Prophetin Isebel (Offb 2, 20) ironisch die einzige „Pastorin“ nennt, die im Neuen Testament erwähnt werde, so verschiebt diese Bemerkung, die ja sehr aufschlussreich ist, den Tatbestand: Denn der falschen Prophetin stehen die legitimen Prophetinnen gegenüber! – dieser Tatbestand ist nicht aus der Welt zu schaffen. Die Exegese hat das eine und das andere zu sehen. Dies gilt auch noch nach einer anderen Seite hin. Es wird nämlich in der Frage der Zulassung der Frau zum geistlichen Hirtenamt in der Kirche gemeinhin mit einer Metaphysik der beiden Geschlechter gearbeitet, die aus dem „Wesen“ von Mann und Frau ableitet, was alles der Mann kann und darf, die Frau aber nicht. Diese Geschlechter-Metaphysik, in Gesellschaften entstanden, die auf der Herrschaft der Männer beruhen, ist zwar uralt, ist vorchristlich, aber deswegen noch nicht wahr und auch nicht christlich. Aus dieser Metaphysik ist die kultische wie die politische Minderwertigkeit der Frau abgeleitet worden, bis hin zu jener pervertierten Frage, ob denn Frauen im eigentlichen Sinne Menschen seien und ob sie eine Seele hätten.
Ermutigung und Glaubensverkündigung. Mit der Frage der Prophetie insgesamt ist Paulus vor allem in 1 Kor 12-14 beschäftigt und zollt ihr hier hohe Achtung. Wichtig ist ihm, dass die Prophetie Menschen ermutigt. Und dass sie nicht ungeordnet und wirr in der Gemeinde vorgebracht wird, sondern friedlich und in einer „geordneten Reihenfolge“. Prophetie hat für Paulus auch die Funktion, Lehrstellen in der Glaubensverkündigung zu füllen, neue Situationen bewältigen zu können und Fragen zu klären, für die die bislang übliche Verkündigung keine Antwort hatte. So etwa Paulus selbst über den Auferstandenen: „Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden – plötzlich, in einem Augenblick, beim letzten Posaunenschall. Die Posaune wird erschallen, die Toten werden zur Unvergänglichkeit auferweckt, wir aber werden verwandelt werden. [. . .] Wenn sich aber dieses Vergängliche mit Unvergänglichkeit bekleidet und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit, dann erfüllt sich das Wort der Schrift: Verschlungen ist der Tod vom Sieg.“ (1 Kor 15, 51–54)
Die Gemeinde bestärken. Paulus redet hier prophetisch und beantwortet eine Frage, die in der Gemeinde virulent war, die sich Gedanken über Tod und Auferstehung macht. Das Beispiel zeigt, welche Funktion Prophetie hat. Letztlich soll damit die Gemeinde bestärkt, ermutigt, wieder auf die Beine gebracht werden. Diese Aufgabe erfüllen Frauen wie Männer. Und diese Aufgabe hatten Frauen wie Männer ja auch schon im Alten Testament. Der oft kritische Ton, den die klassischen Schriftpropheten an den Tag legen, darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass es immer um eine kreative und positive Bewältigung der Probleme geht, denen sich Prophetinnen und Propheten zuwenden. Mitunter kann dies auch Abkehr von alten Wegen und vor allem von Fehlern bedeuten. Insofern sind Prophet/innen Mahner/innen. Sie sind jedoch ebenso Tröster/innen und unverzichtbarer Bestandteil eines lebendigen Glaubens. Eines Glaubens freilich, der sich in der Liebe Bahn brechen muss, wie Paulus im Zentrum seiner großen Betrachtung von 1 Kor 12–14 bekanntlich so schön sagt: „Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.“ (1 Kor 13, 2)