Dass der Oberste Gerichtshof (OGH) in Österreich ein behindertes Kind als „Schadensfall“ bezeichnet, hat fatale Folgen für die Gesellschaft, meint Gertraude Steindl von der Aktion Leben.
HANS BAUMGARTNER
Wie sehen Sie den jüngsten Spruch des OGH, der von einem Arzt den Unterhalt für ein behindertes Kind verlangt? Steindl: Soweit ich aus dem Urteil sehen kann, wird dem Arzt vorgeworfen, dass er eine Schwangere nicht umfassend genug informiert hat. Er hatte die Frau zur Abklärung eines auffälligen Ultraschallbildes an die Risikoambulanz überwiesen. Ohne selbst genau zu wissen, was da los ist, hätte er die werdende Mutter nach Meinung des OGH auf die mögliche Schädigung des Kindes hinweisen und sie über die Option einer Abtreibung informieren müssen. Nach Meinung der Höchstrichter ist offenbar ein behindertes Kind so etwas Schlimmes, dass man vor ihm schon vor Vorliegen einer klaren Diagnose warnen muss.
Welche Folgen könnte dieses Urteil haben? Steindl: Es ist bereits das zweite OGH-Urteil, in dem ein behindertes Kind mit Down-Syndrom quasi als „Schaden“ bezeichnet wird. Das enthält einen unglaublichen gesellschaftlichen Sprengstoff für die Zukunft. Ich glaube, dass sich der Trend, dass Menschen mit Down-Syndrom erst gar nicht mehr auf die Welt kommen, weiter verschärfen wird. Ich befürchte, dass nun jeder Arzt in der Schwangerenvorsorge aus Angst, etwas zu übersehen, noch mehr zu invasiven pränatalen Untersuchungen (Fruchtwasserpunktur u. a.) raten wird. Das bringt sowohl für die Frauen als auch für die Kinder zusätzliche Belastungen und Gefährdungen mit sich. Schon jetzt warnen Experten vor zu viel Medizin in der Schwangerschaft, wodurch die natürlichen Mutter-Kind-Beziehungen gestört werden. Durch solche Urteile wird die Situation aber eher verschärft.
Was könnte dieser Trend für Eltern bedeuten, die trotzdem Ja zu einem behinderten Kind sagen?
Steindl: Ich fürchte, nichts Gutes. Denn schon heute finden Frauen, die sich dem ganzen medizinischen Untersuchungsstress nicht unterziehen, weil für sie eine Abtreibung ohnedies nicht in Frage käme, kaum Verständnis. Ich sehe die Gefahr, dass Eltern mit einem behinderten Kind als „selber schuld“ abgestempelt werden und dass die Bereitschaft der Allgemeinheit, sie zu unterstützen, immer mehr abnimmt. Das ist ja auch etwas, das mich an dem OGH-Urteil so irritiert. Gelingt es Eltern, ihr behindertes Kind als „Schadensfall“ darzustellen, dann sollen sie vom „Verursacher“ den gesamten Unterhalt und mögliche weitere Finanzeinbußen ersetzt bekommen. Haben Eltern einfach nur ein behindertes Kind, dann bekommen sie meist nicht einmal den Mehraufwand ersetzt. Da gäbe es einen erheblichen Spielraum für Verbesserungen.
Macht es Sie betroffen, dass in Österreich Kinder mit Down-Syndrom immer öfter nicht mehr geboren werden? Steindl: Ja, weil dahinter viele verzweifelte Menschen stehen, die sich allein gelassen fühlen. Und weil das im krassen Widerspruch zu einem Menschenbild steht, das jedem/e die- selben Rechte, dieselbe Würde und denselben Wert einräumt, unabhängig davon, ob er oder sie gesund, krank oder behindert, jung oder alt ist. Wir haben in Österreich ein Behindertengleichstellungsgesetz, das jede Diskriminierung auf Grund einer Behinderung verbietet. Und gleichzeitig dürfen Kinder deshalb, weil sie möglicherweise eine ernsthafte Behinderung haben werden, bis zur letzten Schwangerschaftswoche abgetrieben werden. Das ist ein krasser Widerspruch, den leider das OGH-Urteil noch bekräftigt – zum Schaden der vorgeburtlichen Medizin, zum Schaden der Eltern behinderter Kinder und zum Schaden behindeter Menschen.
Zur Sache
Ein OGH-Urteil gibt zu denken Ein Urteil des Obersten Gerichtshofes (OGH) vom 10. Juli schlägt Wellen. Weil ein Arzt eine Schwangere und ihren Gatten nach einer Mutter-Kind-Pass-Untersuchung nicht deutlich genug darauf hingewiesen hat, dass ihr Kind möglicherweise behindert sein könnte, sondern sie zur weiteren Diagonstik „nur“ an die Risikoambulanz überwiesen hat, muss er den gesamten Unterhalt – und nicht bloß den durch die Behinderung entstehenden Mehraufwand – als „Schadenersatz“ zahlen. Die Argumentation des Gerichtes geht dahin, dass die Vertragspartnerin (Patientin) des Arztes bei ausreichender Information ja überhaupt keinen Unterhalt für ein behindertes Kind hätte tragen müssen, da sie damals noch Zeit gehabt hätte, das Kind abtreiben zu lassen. Das Gericht geht dabei von der Selbstverpflichtung österreichischer Frauenkliniken aus, Abtreibungen nur bis zur 24. Schwangerschaftswoche durchzuführen, da danach das „Risiko“ einer Lebendgeburt zu hoch wäre. Laut Gesetz können bei Vorliegen ernsthafter Indizien für eine Behinderung des Kindes Abtreibungen allerdings bis zu letzten Schwangerschaftswoche durchgeführt werden. Und Fachleute glauben auch, dass das auch geschieht.
Seit Jahren kämpfen Behindertenorganisationen in Österreich gegen die so genannte embroypathische oder eugenische Indikation. Durch die weit über die zwölfte Schwangerschaftswoche (Fristenregelung) hinausgehende Abtreibungsmöglichkeit diskriminiere sie Menschen allein auf Grund ihrer (möglichen) Behinderung. Mit seinem Urteil einer umfassenden Arzthaftung im Falle der Geburt eines behinderten Kindes, erklärt der OGH behindertes Leben zum „Schadensfall“. Er tut das, wie aus dem Urteil hervorgeht, im Widerspruch zu einem Teil der juristischen Lehrmeinung. Dieser wirft er eine „rechtsethische“ Argumentation vor, die die „ungerechtfertigte Geburt“ (wrongful birth) als schadensstiftendes Ereignis strikt ablehne.