Früher, wenn ich nicht schlafen konnte, lag ich oft stundenlang im Bett und zählte Schafe … ein Schaf, noch ein Schaf, noch ein Schaf. In den schlaflosen Nächten meines bisherigen Lebens habe ich wohl tausende, abertausende Schafe gezählt, den halben Schafbestand dieser Erde. Um einschlafen zu können, endlich einschlafen zu können nach einem stressreichen Tag.
Jetzt habe ich Internet-Anschluss und vertreibe mir die schlaflosen Nächte vor dem Computerbildschirm. Ich drücke ein paar Tasten, klicke ein paar Bildchen an und surfe durch die elektronischen Welten, von einer Web-Seite zur anderen, bis ich todmüde bin – oder der Morgenwecker läutet.
Gestern habe ich, einfach so, weil mir irgendwie danach war, jetzt im Advent, das Wort „Engel“ auf meine Tastatur getippt. Mein Computer meldete mir nach kurzem Knistern und Rattern: 87.143-mal gefunden. 87.143 Informationen zum Thema „Engel“.
Ich frohlockte mitten in meiner schlaflosen Nacht und machte mich sofort auf die Reise zu meinem ersten Engel. Mein erster Engel: „Engel, Edwin“, las ich, als die entsprechende Info-Seite am Bildschirm aufleuchtete … und dann folgte ein Stundenplan mit Vorlesungen zu den Themen „Eisenbahnwesen“ und „Öffentlicher Personenverkehr“, die ein gewisser Dipl.-Ing. Edwin Engel im Wintersemester an der Technischen Universität in Wien abhält. Der falsche Engel, für mich jedenfalls.
Ich klickte gelassen das nächste Stichwort „Engel“ im Suchprogramm an und landete beim ÖAMTC: „Gelbe Engel geben Tipps zu altem Öl“, stand da zu lesen, ein paar Belehrungen für Autofahrer. Durchaus brauchbar, aber nicht in der Nacht, wenn man seinen Engel sucht. Auf einer Internet-Seite des Gasthauses „Zum Engel“ in Wiesbaden flatterten dickliche Engel wie Fledermäuse kreuz und quer über den Computerbildschirm, während der Bestand an freien Zimmern und die Speisekarte für die Weihnachtszeit aufgelistet wurden.
Eine „Engel-Apotheke“ in St. Irgendwo pries die verlockendsten Glühwein-Mischungen für die Adventtage an. Ein Heimwerkerservice namens „Engel“ warb für wasserverdünnbare Lacke.
Mit jedem Tastendruck, mit jedem Klick-Geräusch holte ich einen neuen „Engel“ auf meinen Monitor.
Dann kam die Rubrik „Schlager und Volkstümliches“. Oh Gott! Da wimmelte es nur so von Engeln! Engel, Engel, scharenweise! Der „Engel vom Marienhof“, der „Engel in Palermo“, der „Engel im Feuer“, der „Engel auf Erden“, Engel über Engel … vom Lago Maggiore, von St. Kathrein und San Capitello, von Nicki, Costa Cordalis, den Paldauern und der Kelly Family. Engel der Sehnsucht, Engel der Einsamkeit, Engel in Jeans, Engel – nehmt mir das Wort nicht übel – zum Saufuttern!
Ich schaute bei der „Agentur Engel-Reisen“ vorbei, auf meiner rastlosen Tour durch die Engel-Welt, kam zu Notaren, Bierbrauern, Fitnessclubbesitzern, die alle „Engel“ heißen – oder sich zumindest so nennen, sich und ihren Betrieb … („Zum topfiten Engel“ – Muskelaufbautraining zu himmlischen Preisen). Kurzum: ich habe mich unter den 87.143 „Engeln“, die mir mein Internet-Suchprogramm anbot, heillos verirrt. Es wäre ja auch zu schön gewesen:
Man klickt sich seinen Engel an, und der zeigt einem, wo es nach Bethlehem geht oder wenigstens zur Glückseligkeit. Der Knopfdruck-Engel, allezeit bereit, stets abrufbar, zu jeder Tages- und Nachtzeit, und im Advent zu besonders günstigen Tarifen. Nein – Engel sind anders. Leiser, leichter irgendwie. „Engel können fliegen, weil sie sich so leicht nehmen“, habe ich grad noch gelesen, bevor ich mich aus dem Internet ausklinkte, völlig erschöpft und mit schmerzenden Augen. Heute Nacht bleibt mein Bildschirm tot. Heute Nacht schalte ich keine Apparate an. Nur Stille – Leichtigkeit und Stille. Vielleicht höre ich dann endlich meinen Engel … wenn er wieder Sturm läutet an der Tür zu meinem müden Herzen.
- Die Erzählung ist dem Buch „Engel, Engel scharenweise. Geschichten und Gedichte zum Advent“ entnommen. Gebundene Ausgabe bei Argon (12,50 Euro), broschiert bei S. Fischer (6.90). Walter Müller (56) geht dabei mit Witz, Fantasie und einer gesunden Portion (Selbst-)Kritik vorweihnachtlichen Spuren nach. Ein Lesevergnügen.