Es war Mitte des 21. Jahrhunderts. „Es gibt tatsächlich noch Menschen, die den Ursprung des Weihnachtsfestes nicht kennen und die dieses glatt unserem Konkurrenzsender World-online zuschreiben“, meinte ein erboster Programmdirektor des resteuropäischen Digitalkanals. „Dabei“, polterte er, „haben wir uns die Rechte an dieser Veranstaltung viel Geld kosten lassen. Die Leute müssen Weihnachten untrennbar mit uns in Verbindung bringen – mit sonst nichts und niemandem“. Die Köpfe in der Redaktion rauchten, schließlich aber hatte der Boss selbst die Idee: Der Weihnachts-Jackpot muss her.
Weihnachten heißt gewinnen, meinte der Boss. Und also muss man den Leuten etwas zu gewinnen anbieten. Das bringt Quote! Eine sehr hohe Summe wurde eingesetzt. Die Wirtschaft sponserte die Aktion, erwartete sie sich doch eine Ankurbelung des Geschäftes. Im Zentralsupermarkt der Hauptstadt würde an jedem Vorweihnachtstag der tausendste Kunde belohnt: Er kann nicht nur seinen Einkauf gratis mit nach Hause nehmen, sondern nimmt auch an der Verlosung der, wie gesagt, sehr hohen Summe teil.
Man startete die Aktion drei Tage vor Weihnachten. Vor dem Supermarkt wartete schon in der Früh ein Kamerateam, um den Ansturm auf das große Glück ins Bild zu bringen. In der Tat. Schon um sechs war eine große Menschenmenge vor dem Eingang versammelt. Ein Raunen ging durch die Menge, als das Tor geöffnet wurde – aber niemand trat vor. Jeder wartete. „Als Erster hinein? – Ich bin doch nicht dumm. Der Tausendste gewinnt den Preis – nicht der Erste.“ So beäugte sich die Menge mit wachsender Ungeduld. Keiner gab nach. So kam es, dass an diesem Tag nur ein paar Leute, die von der Aktion nichts gehört hatten oder wirklich etwas brauchten, das Innere des Supermarktes betraten.
Es waren bei weitem nicht tausend. Am Nachmittag verlor sich die Menge. Der Supermarktleiter raufte sich die Haare. Der Programmdirektor hoffte auf morgen. Irgendwann würden den Leuten die Reserven ausgehen. Am zweiten Tag war es ähnlich. Zuerst das große Zuwarten. Warten können wir daheim genauso gut, dachten die Leute schließlich – und gingen weg. Ich pfeife auf das große Glück, sagten sich die meisten am dritten Tag. Man ging spazieren, besuchte Leute oder ging einer nützlichen Beschäftigung nach. Und am Abend stellten nicht wenige von ihnen – und zwar mit Erstaunen – fest, dass sie gerade dadurch einen Zipfel vom Glück gefunden hatten.