Bad Zell: Tagebuch eines Wiener Juden aus den Jahren 1848 bis 1851 entdeckt
Ausgabe: 2007/05, Bad Zell, Tagebuch, Juden, Glaßner, Sensationsfund, Juden, Bachner
02.02.2007 - Josef Wallner
Eine Reihe von Zufällen, die im März 2003 im Altstoffsammelzentrum Bad Zell ihren Ausgang nahmen, fand nun ein aufsehenerregendes Ende: Ein unscheinbares Buch aus dem Altpapiercontainer entpuppte sich als einzigartiges Zeugnis jüdischen Lebens in Österreich.
Was genau die Aufmerksamkeit für die sieben oder acht Bände, die sich im Altpapier des Sammelzentrums Bad Zell befanden, erregte, kann Karl Bachner nicht mehr genau sagen. Er zog jedenfalls eines dieser in braun marmorierte Pappe gebundenen Bücher heraus und war von den ihm fremden Schriftzeichen fasziniert. Auch die pensionierte Lehrerin Martha Kern – sie ist Solidaritätspreisträgerin der KirchenZeitung – konnte nicht weiterhelfen, doch weiterreichen. Durch ihre Bekannte Sieglinde Penn kam der Band schließlich in die richtigen Hände – zum Melker Benediktiner P. Gottfried Glaßner.
Der Professor für Altes Testament an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten erkannte, dass es sich um Tagebuchaufzeichnungen in hebräischer Kursivschrift handelte: Ein vorerst nicht verifizierbarer Autor hatte auf 368 eng beschriebenen Seiten seine Erlebnisse im Zeitraum vom 27. August 1848 bis zum 31. Mai 1850 festgehalten. Der Autor schrieb in Hochdeutsch – aber in hebräischen Buchstaben. P. Gottfried Glaßner übertrug den geretteten Teil der Aufzeichnungen in deutsche Lettern. Die weiteren Bände waren längst von Bad Zell in die Altpapierverwertung nach Linz gewandert.
Dem Historiker Wolfgang Gasser vom „Institut zur Erforschung der Geschichte der Juden in Österreich“ gelang es – erst vor wenigen Wochen – den Journalisten Benjamin Bernhard Kewall (1806–1880) als Autor zu benennen. Am Tag des Judentums, am 17. Jänner 2007, konnten Gasser und Glaßner ihre Forschungsarbeit der Öffentlichkeit präsentieren.
Einzigartig ist das Dokument, weil erstmals ein persönlicher Erlebnisbericht aus jüdischer Sicht auf die Revolution von 1848 vorliegt. Die revolutionäre Verfassung brachte der jüdischen Bevölkerung eine weitgehende Gleichstellung in vielen Lebensbereichen, die bis 1851 aber größtenteils wieder rückgängig gemacht wurde.
Der Journalist Kewall setzt sich in seinem Tagebuch auch ausführlich mit seiner eigenen Religiosität und mit dem Christentum auseinander. Nachdem er eine katholische Auferstehungsprozession beobachtet hatte, kommt er zur Feststellung: „Ich bestätige die schon oft gemachte Bemerkung, dass dieser (katholische) Cultus mächtig zu den seinen spreche, aber nicht so viel inniges Wohlbehagen zurücklässt als unsere kindlich-liebenswürdigen jüdischen Gebräuche.“