Wer erklären kann, warum die Kirchen leer sind, füllt Säle. Der Grazer Pastoraltheologe und Psychologe Rainer Bucher referierte beim Dies Academicus der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz über „Eine alte Kirche in ziemlich neuen Zeiten“ – in der überfüllten Aula. Mehr als 200 Zuhörer/innen waren gekommen.
Warum ist die Kirche in der Krise? Es heißt doch, „dass die Religion zurückkehrt“. Religiöse Praxis liegt heute völlig in der Verfügbarkeit des einzelnen Menschen, in seiner ganz persönlichen Entscheidung. Der Glaube des Einzelnen bestimmt sich nicht mehr durch Geburt und Tradition. Das ist geschichtlich eine völlig neue Situation, die eine neue Beziehung zwischen der Amtskirche und den einzelnen Gläubigen geschaffen hat: Die Kirche ist von der Zustimmung ihrer Mitglieder abhängig und hat keinerlei Sanktionsmöglichkeiten. Sichtbar wird diese neue Form in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts und zeigt sich nun voll und ganz. Die sogenannte Rückkehr der Religion widerspricht diesem Befund überhaupt nicht. Die Menschen wählen aus, was ihnen gefällt – wie Weltjugendtage zum Beispiel – aber eine andauernde Teilnahme am Leben in den Pfarren wächst daraus nicht.
Wie zeigt sich die Krise konkret? In den Pfarren kann man sie an Zahlen ablesen: an der Teilnahme am Gottesdienst und am Gemeindeleben. Und sie drückt sich in einer unübersehbaren Unsicherheit aus. Das bringt enormen Stress. Man weiß nicht, wie es weitergehen soll, damit die Kirche ihre Sendung erfüllen kann, nämlich Sakrament des Heils und Zeichen der Liebe Gottes unter den Menschen zu sein. Es nützt nichts: Wir müssen die Krise lieben lernen und als Herausforderung annehmen, die Gott uns schickt.
Was heißt das für Pfarrgemeinden? Wir müssen von den Aufgaben her Kirche denken und nicht von der Sozialform. Wir dürfen nicht die Organisation in den Vordergrund stellen, sondern es geht um Gruppen, wo offen und ehrlich über das Evangelium und das Leben gesprochen werden kann, wo man austauschen kann, wie man als Christ in der Wirtschaft leben, wie man mit Schuld umgehen oder wie man als Eltern seine Kinder erziehen kann. Die Verbindung von Evangelium und Leben ist entscheidend.
Welche neue Formen von Spiritualität zeigen sich in der Krise? Die Krise lehrt uns selbstbewusste Demut: Wir haben als Christen etwas zu sagen, das den Menschen neue Horizonte für ihr Leben eröffnet. Papst Johannes XXIII. hat uns diese neue spirituelle Haltung gezeigt. Kurz vor seinem Tod schreibt er: Nicht das Evangelium hat sich verändert, sondern wir fangen gerade an, es besser zu verstehen.
Wie weit kann es noch nach unten gehen? Die Zahlen werden noch kritischer. Wir dürfen uns nicht von medialen Kurzzeiterfolgen täuschen lassen. Die Abnahme von Kirchenzugehörigkeit und Kirchenbesuch wird aller Wahrscheinlichkeit nach weitergehen.
Gibt es nicht doch Anzeichen dafür, dass die christlichen Kirchen erfolgreich sind, wo sie – sehr offen formuliert – konservativ auftreten, mit klaren Aussagen und Vorschriften? Klarheit und Entschiedenheit sind nicht allein die Kennzeichen von Konservativen. Kirche muss klar und entschieden sein. Nur worin? In der Liebe oder in der Macht? Das Hauptproblem besteht darin: Wie kann ich die Ernsthaftigkeit des Glaubens und die Bedeutung für das Leben zeigen, ohne dass er mit Mitteln der Macht durchgesetzt wird? Die Sehnsucht nach besseren Zeiten ist verständlich und die Illusion hat viele Gesichter, aber eine Rückkehr zu den alten Zeiten wird es nicht mehr geben. Religiös fundamentalistische Gegenprogramme zur religiösen Freiheit der Gegenwart sind letztlich nur für die Medien interessant und widersprechen der Botschaft Jesu.
Zur Person
Rainer Bucher
Rainer Bucher ist Univ.Prof. für Pastoraltheologie und Psychologie in Graz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kirchenbildungsprobleme und Grundlagenfragen der Pastoraltheologie. Bucher (geb. 1956) ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.
HinweisDie im Interview angesprochenen Fragen sind ausführlicher nachzulesen in: - Rainer Bucher (Hg.), Die Provokation der Krise. Zwölf Fragen und Antworten zur Lage der Kirche, Echter, Würzburg, 2. Aufl. 2005.