In einer jüdischen Geschichte klagt ein Vater über seinen Sohn: „Ach, Söhnchen, was gehst du denn immer in den Wald, wenn du Gott finden willst. Ist Er, der doch groß ist und erhaben, denn nicht überall derselbe?“ Darauf antwortet das Kind: „Er schon, aber ich nicht!“
Einfach mal weg. Diese kleine Geschichte wirft ein wenig Licht auf eine Erfahrung unserer Zeit, in der ganze Scharen kurzzeitig „einfach mal weg“ auf Pilgerfahrt sind. Die einen fasziniert die langsamere Form des Reisens, die direkt „unter die Haut geht“. Neben den üblichen Blasen sind es persönliche Eindrücke und Begegnungen, die sich stark einprägen. Andere wiederum brechen auf aus beruflichen oder privaten Krisen, suchen nach Erneuerung und Orientierung, manche sogar nach Gott. Ausdrücklich und bewusst die einen, eher im Geheimen und in unsicherer, verschwiegener Hoffnung die anderen: Zu ferne erscheint ihnen das Gerede von Gott, und mit der Kirche können sie ohnehin nicht viel anfangen. „Theologe? Katholische Kirche? – Das ist doch die, die von den Frauen nicht sonderlich viel hält?“, erwidert meine pilgernde Essenskollegin mit einem etwas schnippischen Lächeln.
Ein Ort für Zufälle und Fügungen. Dabei ist es im Grunde ziemlich gleichgültig, mit welchem Ziel man hier unterwegs ist. Denn wer mit den biblischen Geschichten vertraut ist, weiß ohnehin, dass die menschlich vordergründigen Ziele dem Plan Gottes oft buchstäblich „im Wege stehen“. Dass es eigentlich immer anders kommt, als man es sich ausgedacht hat, und dass es doch fast immer glücklich endet, sogar besser, als man es selbst hätte planen können. Dies ist eine der vielleicht eindrücklichsten „Gnadenerfahrungen“ vieler Pilger, wenn sie auch aus Verlegenheit vor diesem großen Wort lieber von „glücklichen Zufällen“ reden. Auch heute noch steht über so manchem Pilger ein heller Stern, der ihn leitet, ein Stern wie jener, der die Magier in den ärmlichen Stall von Bethlehem führte, sie davor bewahrt hat, es sich im beeindruckenden Palast von Jerusalem gemütlich zu machen.
Von einem unruhigen Herzen. Das Suchen nach neuen Horizonten gehört zum Menschen. Wir sind eben nicht zum Herumsitzen geschaffen. Und nicht von ungefähr beginnt der Reiseschriftsteller Helmut Domke sein Buch über den Jakobsweg mit einem Verweis auf die Zugvögel als „Ebengänger“ des Menschen: „Das Leben der Vögel hat seine Jahreszeiten. Eines Tages, ehe noch der Herbst die Blätter färbt, erfasst sie die Unruhe aufzubrechen. Im Dasein des Menschen geht es ähnlich zu. Eines Tages bricht er auf. Irgendwohin.“ Angetrieben von einem unruhigen Herzen.
Das Aufbrechen. Das Ziel ist dabei zweitrangig. Es ist nur ein Vorwand und ein erster Anlass. Im Eigentlichen geht es ums Losgehen und Aufbrechen. Alles andere ergibt sich dann bald von selbst. Für gewöhnlich beginne ich meine Pilgerwege auf einem Berg oder an einer Passhöhe. Denn noch vor dem Aufbrechen kommt der Ausblick in die Weite und das Aufschauen. Der Pilgerweg führt über die heimischen vier Wände hinaus und wird so zum Übergang, zur Suche nach einem neuen Horizont. Vor dem eigentlichen Aufbruch steht ein letztes Innehalten an der Schwelle: Auch mitten im Staub des Alltags genügt schon ein kleiner Moment, um mit einem raschen Sprung „auf der Sehnsucht Seil“ alles hinter sich zu lassen:
Verkaufen dürfen wir nicht unser Ohr, o, nicht unser Ohr dürfen wir verkaufen. Auch auf dem Markte, im Errechnen des Staubes, tat manch einer schnell einen Sprung auf der Sehnsucht Seil, weil er etwas hörte. (Nelly Sachs)
Mag. Klaus Gasperi studierte Theologie und Germanistik. Er ist als Lektor, Buchautor und Begleiter von Pilgergruppen am Jakobsweg und am Franziskusweg tätig.