Als einmal ein junger Mönch zu Starez Séraphim, dem weitum gerühmten heiligen Manne auf den Berg Athos, kam, um von ihm das Beten zu erlernen, da antwortete der Alte: „Geh und schau hinaus aufs Meer. Das ist der Anfang jeden Gebets.“
Die Zeit „vergessen“. Unser Alltag ist zumeist von einer unerbittlichen Zeiteinteilung bestimmt. Mit dem Beginn einer Pilgerreise lassen wir diese alltägliche Zeitstruktur jedoch hinter uns. An die Stelle des durchgeplanten Alltags tritt die fließende Zeit einer Urlaubsperiode, deren Tagesziele mehr durch die persönliche Verfasstheit, durch spontane Begegnungen und willkommene Ruheplätze bestimmt sind als durch vorgefasste Pläne. Das „Vergessen der Zeit“ ermöglicht ein neues, befreiteres Daseinsgefühl. „O, verlerne die Zeit, dass nicht dein Antlitz verkümmere und mit dem Antlitz das Herz“, sagt der Dichter Hans Carossa.
Von der Weite des Lebens. In der Begegnung mit dem Meer und dem ewigen Hin und Her der Wellen wird der Mensch in dessen Unendlichkeit hineingenommen. Auch schon dort, wo der Pilger aus der eng verplanten Zeit heraustritt, beginnt er die Weite des Lebens zu erahnen. Und im stetigen Voranschreiten fühlt er sich plötzlich als Teil dieser großen Weltenbewegung. Angesichts der Erfahrung der Schöpfung vermag er aufs Neue den Schöpfer hinter allem zu ahnen und erinnert sich an die Worte des Psalms 104: „Den Himmel hast du ausgespannt wie ein Zelt, deine Wohnung errichtet über den Wassern, fest gegründet hast du die Erde.“
Gefährdung und Geschenk. „Wenn du beten lernen willst, geh aufs Meer!“, so sagt ein spanisches Sprichwort. Dahinter steckt die Erfahrung der gefahrvollen Fischerei an der „Todesküste“. Doch man muss nicht unbedingt aufs Meer hinausfahren, oft genügt schon der Aufbruch in fremde Gefilde, um die Geborgenheit des alltäglichen Lebens aufs Spiel zu setzen. Nicht von ungefähr haben in unserer Sprache Ausland und Elend dieselbe Wurzel. Beide sind sie ein Ort der Gefährdung und zugleich der Bewährung. Dabei wird deutlich: „Wer das Meer befährt, hat die Winde nicht in den Händen!“ Der Pilger erfährt sich als abhängig von einem größeren Schicksal, angewiesen auf eine größere Gnade. Unsere Zeit, die vom Selbstgemachten und Geplanten lebt, schottet sich oft ab von fremden Einflüssen und denkt mehr an die Verwirklichung des Eigenen. Die Pilgerreise jedoch führt ins Fremde und Weite. Sie funktioniert genau umgekehrt. Das Ziel kann nur durch Offenheit und Hingabe an die jeweilige Situation erreicht werden. So öffnet sich uns der Weg für das Überraschende, Fremde und Zufällige.
Sich öffnen und neu werden. In der spirituellen Tradition wird dem sogenannten Eigenen oft misstraut. Denn allzu rasch entpuppt es sich als das bloß Vorgestellte, als das nur Zurechtgezimmerte. Deshalb lässt auch der oben genannte Séraphim seinen Schüler zunächst tagelang in der Landschaft herumspazieren, damit er hörend und schauend werde. Erst dann wird er fähig sein, auf die Stimme Gottes und seines Herzens zu lauschen. Denn die Fremde oder das Fremde ist nicht nur ein Ort der Gefährdung, sondern auch der Ort, an dem unsere Augen geöffnet werden. Die fremde Natur wird dem Pilger zum Gespräch. Quelle und Baum gewähren ihm Erfrischung und Gastfreundschaft. Es ist gerade die Entdeckung dieses Einfachen, des gewöhnlich Unbedeutenden, das ihm Anlass gibt zur Freude.
Ich danke Dir Gott für diesen höchst wundervollen tag: die grün hervorspringende kraft der bäumeund den blauen, wahren traum von einem himmel; und für alles, was natürlich ist, was unendlich weit ist und ja sagt. dies jetzt ist der geburtstag des lebens und der liebe nun sind die augen meiner augen geöffnet(E. E. Cummings)
Mag. Klaus Gasperi studierte Theologie und Germanistik. Er ist als Lektor, Buchautor und Begleiter von Pilgergruppen am Jakobsweg und am Franziskusweg tätig.