In der Liturgie des 26. Dezember steht Stephanus als erster Martyrer und als Diakon im Mittelpunkt. Dass Stephanus „Theologe“ war und entscheidende Weichen für die junge Kirche gestellt hat, geht meist unter.
Im sechsten Kapitel der Apostelgeschichte (Apg) erfährt man von einem Konflikt, der einen interessanten Einblick in die Anfänge der Kirche Jesu gibt: Die Hellenisten begehren gegen die Hebräer auf, weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung übersehen wurden (Apg 6,1). Die Auseinandersetzung hat mit der unterschiedlichen Herkunft der Mitglieder der Urgemeinde zu tun. Die Gemeinde besteht aus zwei Gruppierungen: aus einem Aramäisch sprechenden Teil, den „Hebräern“, zu dem die Apostel gehören, und aus den „Hellenisten“. Das sind Griechisch sprechende Juden, die ursprünglich außerhalb des „Heiligen Landes“ lebten, sich aber aus religiöser Überzeugung in Jerusalem, der Stadt Gottes und seines Tempels, niedergelassen haben. Sie organisierten sich in eigenen griechischsprachigen Synagogen (Apg 6,9). Mit dem Pfingstfest schlossen sich eine Reihe dieser Juden der Jesusgemeinschaft an und wurden als Hellenisten bezeichnet.
Mut zu eigenem Denken. Um die Zwistigkeiten zwischen Hellenisten und Hebräern zu bereinigen, wird ein Gremium von sieben hellenistischen Männern zum „Dienst an den Tischen“ eingesetzt, die die Tradition „Diakone“ nennt. Stephanus wird als Erster dieser Sieben aufgeführt (Apg 6,5) und als Mann erfüllt von Glauben und Heiligem Geist charakterisiert, der Wunder und große Zeichen unter dem Volk tat (Apg 6,8). Vom Tischdiener ist hier schon nicht mehr die Rede, eher von einem überzeugenden und fundierten Verkündiger. Das zeigt sich auch im Verteidigungsplädoyer vor dem Hohen Rat: Stephanus kritisiert den Jerusalemer Tempel. Das Kuriose dabei ist, dass Stephanus oder seine Familie ihre Heimat verlassen haben, um in unmittelbarer Nähe des Tempels leben zu können. Doch durch die Hinwendung zu Jesus hat der Tempel seine zentrale Funktion verloren. Er behält seine Berechtigung als Ort des Gebets, aber die eigentliche Stätte, wo man Gott begegnet, ist Jesus Christus, der Gekreuzigte. Nicht die Opfer des Tempels, sondern Jesus Christus schenkt den Menschen Versöhnung und Erlösung. Paulus hat diese Glaubensaussage wohl von den Hellenisten übernommen und in seinem Brief an die Gemeinde in Rom auf den Punkt gebracht (Röm 3,24–26). Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, stellt geschickt eine Verbindung zwischen Paulus und den Hellenisten her, weil ihm diese Brücke wichtig ist: Saulus steht bei der Steinigung des Stephanus zwar noch auf Seiten der Verfolger, aber er ist in das Geschehen einbezogen und wird mit dem Gedankengut des herausragenden Hellenisten Stephanus vertraut gemacht.
Aus Flucht wird Missionserfolg. Die Hellenisten um Stephanus haben schnell die Bedeutung Jesu erfasst und verstanden, diese auch in Worte zu fassen: Jesus ist der von Gott Erhöhte, der zur Rechten des Vaters steht – also im Rang Gottes ist (Apg 7,55–56). Dieses hochtheologische Christusbekenntnis ist nicht viele Jahrzehnte nach dem Tod Jesu langsam entwickelt worden, sondern scheint zum Urbestand der Verkündigung zu gehören. Während die jesusgläubigen Hebräer weiterhin in den Tempel gehen, werden die Hellenisten nach der Steinigung des Stephanus in Jerusalem verfolgt und müssen aus der Stadt fliehen (Apg 8,1b und 11,19). Eine seltsame Verfolgung: Die Apostel als Häupter der Urgemeinde bleiben unbehelligt, lediglich der Griechisch sprechende Teil der Gemeinde wird verfolgt. Was wie eine Niederlage für die Hellenisten aussieht, erweist sich als die Basis einer einzigartigen Erfolgsgeschichte für die ganze Kirche. Die Hellenisten beginnen auf ihrer Flucht zu missionieren, zuerst unter den Griechisch sprechenden Juden im Mittelmeerraum, dann unter Heiden. „In Antiochia verkündeten sie auch den Griechen das Evangelium von Jesus dem Herrn“ (Apg 11,20). Diese Pionierleistung der Hellenisten ist nicht hoch genug einzuschätzen. Es folgen noch eine Reihe von Konflikten über den Weg der Urgemeinde zwischen der Treue zur jüdischen Herkunft und der Öffnung für alle Menschen – aber der Horizont, den Stephanus und die Hellenisten eröffnet haben, wurde zur Orientierung für die Kirche bis heute.
Offenheit als Kirchen-Gen. Durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 durch die Römer hat die Frage nach der Bedeutsamkeit des Tempels ihre Brisanz verloren. Nach und nach verlieren sich auch die Spuren von Hebräern und Hellenisten. Was aber bleibt: Die Hellenisten haben die Kirche des Anfangs als „offene“ Kirche geprägt, die im Vertrauen auf die Kraft des Heiligen Geistes neue Wege gegangen ist.
Dr. Michael Zugmann ist Assistent für Bibelwissenschaft an der KTU Linz. Er hat seine Dissertation über die „Hellenisten in der Apostelgeschichte“ verfasst. Die Grundlage des KIZ-Artikels ist ein Interview mit Dr. Zugmann. Der Artikel kann nur auf Apg 6,1 eingehen. In der Apostelgeschichte ist an zwei weiteren Stellen von Hellenisten die Rede. Dort werden damit Griechisch sprechende Juden und Nichtjuden in Antiochia bezeichnet.