11.11.2010 - P. Georg Fischer SJ, Universität Innsbruck
Das Buch Exodus aus dem Ersten Testament ist nicht nur eine spannend erzählte Befreiungsgeschichte, es ist auch ein ungemein starkes Glaubensbuch – und ein kritischer Spiegel für die Kirche.
Was die Kirche heute erschüttert (Missbrauch und Vertrauenskrise), ist nicht neu. Es hat Vorläufer in der Bibel selbst, wo wiederholt vom Versagen der geistlichen Führung berichtet wird. Im Buch Exodus ist Aaron, Modellfigur für die sich auf ihn zurückführenden Hohenpriester, wesentlich mitbeteiligt am Abfall und Götzendienst des Volkes. Und als sein Bruder Mose ihn zur Rede stellt, antwortet er ausweichend und lügend.
Gott sieht die Not. Über diese – traurige – Aktualität hinaus hat das Buch Exodus für uns Christen Wertvolles und Tröstliches zu sagen. Das Buch Exodus ist bei den meisten Menschen wohl bekannt wegen der Befreiung der Israeliten aus Ägypten, die in seinem ersten Teil geschildert wird (Ex 1 – 15). Diese Erzählung zeigt, wie Gott eine Gruppe unterdrückter Menschen gegen den Widerstand des „Großen Hauses“, so die Übersetzung von „Pharao“, den Weg in die Freiheit ermöglicht. Der Befehl des Herrschers, alle neugeborenen hebräischen Jungen zu töten (Ex 1, 22), ist nur ein anfängliches Beispiel für all jene Formen von Ausbeutung und rücksichtsloser Diktatur, wie sie bis heute vielfach begegnen.
Gott greift ein. Gegen solche Erfahrungen der Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit vermittelt die Erzählung in Ex 1 – 15 Hoffnung: Gott sieht die Not und kennt das Leid (Ex 3, 7). Er sendet in Mose einen Retter. Er gibt Pharao gegenüber nicht nach, bis er sein Ziel erreicht hat. Der häufig erhobene Einwand, der jährlich bei der Schilfmeerlesung der Osternacht wiederkehrt, dass dabei auch das unschuldige ägyptische Volk getroffen wird, basiert auf einer ungenauen Übersetzung: In all diesen Texten ist nie (!) von Ägyptern die Rede, sondern immer nur von „Ägypten“, d. h. von jener unterdrückenden Macht, die mit Pharao als ihrem Anführer verbunden ist. Sie liegt am Ende „tot am Ufer des Meeres“ (Ex 14, 30). Ex 1–15 ist in der Bibel der Modellfall für Gottes Befreien. Die „Theologie der Befreiung“ bezieht sich zu Recht darauf.
Befreiung ganz. Gott lässt Israel dann aber nicht in der Wüste stehen. Befreiung von Abhängigkeit ist nur der erste Schritt, der weiterführen muss in eine neue Weise des Lebens. Gott schenkt sie im Bund am Sinai, dem Angebot einer bleibenden Beziehung, das auch Regeln für das Verhalten untereinander umfängt (Ex 20–23). Die durch den Wegfall Ägyptens entstandene „Leere“ füllt Gott mit seiner Gegenwart und Nähe. Gottes „Zelt“. Letztere gewinnt eine neue Dimension im ‚Heiligtum‘, das Mose am Berg von Gott gezeigt bekommt und auch „Zelt der Begegnung“ genannt wird. In der dauernd geschenkten Anwesenheit Gottes inmitten der Gemeinschaft vollendet sich die Bewegung der Befreiung. Gleichzeitig ist das Heiligtum eine Art Urbild für alle unsere Gotteshäuser und Kirchen.
Barmherziger Gott. Die Texte zum Heiligtum (Ex 25 – 31 und 35 – 40) umschließen die schon erwähnte Geschichte mit dem Goldenen Kalb, die zuläuft auf die Offenbarung des barmherzigen Gottes (Ex 34, 6f): „Gott, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue.“ Diese Formel bildet die Mitte des Glaubens an den biblischen Gott: Er fängt die Untreue und den Bundesbruch des Volkes auf die Fürsprache Moses hin mit seiner Vergebung auf. Solche Begegnung mit dem verzeihenden Gott gibt bis heute aller Existenz Sinn und Hoffnung.
Buchtipp. G. Fischer SJ / D. Markl SJ, Das Buch Exodus (Neuer Stuttgarter Kommentar AT Band 2), Stuttgart, Katholisches Bibelwerk, 2009.
Vom 26. bis 28. September fand an der Universität Innsbruck ein wissenschaftlicher Kongress zum Deuteronomium, dem 5. und letzten „Buch Moses“ (Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium), statt. Im Deuteronomium sind noch einmal die Befreiungsgeschichte, die Wüstenzeit, das Gottesbekenntnis und die Gesetzgebung zusammengefasst.