Das Volk beklagt sich bei Gott (Jesaja 63,7–64,11)
Ausgabe: 2011/28, Georg Fischer, Beten, Israel, Klage
13.07.2011 - P. Dr. Georg Fischer SJ
Mutter und Vater sind jene Menschen, denen wir unser Leben verdanken und die uns prägen. Die Bibel schreibt Gott auch elterliche Rollen zu. Das Volk Israel beruft sich in seiner „Klage“ darauf.
Jesu Gebetsbelehrung im „Vater unser“ hat seine Wurzeln im Alten Testament, das öfter Gott als „Vater“ bezeichnet (z.B. Dtn 32,6; Ps 103,13) oder ihm mütterliche Züge beilegt (Jes 49,15; 66,13). Im Beten zu ihm dürfen wir eintreten in eine ähnlich innige und tiefe Beziehung wie mit unseren Eltern.
Verletzte Beziehung. Das längste Gebet im Jesajabuch findet sich knapp vor seinem Ende und spricht Verletzungen in der Beziehung an. Wie die unmittelbare Fortsetzung (Jes 65–66) zeigt, erhört Gott die Klage des Volkes sofort und antwortet positiv, seinen Frommen gegen Frevler zur Gerechtigkeit verhelfend, was das Buch zu seinem Abschluss bringt. Beten ist oft der Schlüssel zu einer Lösung.
Erinnerungen. Im Gedenken steckt große Kraft. Hier steht es am Anfang (v7.11) und nimmt den Kontrast wahr, der zwischen Gottes Zuneigung und Hilfe (v8f.11–14) und der Zurückweisung durch sein Volk (v10) besteht. Auch in vielen Psalmen löst Erinnern eine erneute Hinwendung zu Gott aus.
Vorwürfe. Im Vergleich zur Vergangenheit erscheint Gott zurückhaltend. Israel hat den Eindruck, er habe nachgelassen in seinem Engagement und den Gefühlen für sie (s. das Rumoren im Bauch, in menschlicher Sprech-weise v15), und spricht dies offen an. Die Klage über seine Distanziertheit kehrt auch in den Fragen von v17 sowie am Ende, rahmend, wieder (64,11). Für Gläubige ist manchmal schwer zu akzeptieren, wenn in ihrer Not keine Veränderung erkennbar wird.
Viele Rollen für Gott. Damit seine ‚Untätigkeit‘ sich ändert, wird Gott mehrfach auf seine Verantwortung angesprochen. Er ist für die ganze Gemeinschaft ‚Vater‘ (v16 [zweimal]; 64,7). Zu seinem Wesen (‚Namen‘) gehört, ihr ‚Erlöser‘ zu sein (v16, vgl. auch v9), und ebenso ihr ‚Bildner‘, der sie wie ein Töpfer formt (64,7). Zusammen mit seinem ‚heiligen Geist‘ (zweimal 63,10f) und den im vorigen Absatz erwähnten Gefühlen wird in diesem Volksklagelied eine reichhaltige Theologie sichtbar, die Gott vielfältig und innerlich tief bewegt schildert. Er lässt sich nicht auf einen oder einzelne Aspekte reduzieren. Das Gebet hier spiegelt eine lebendige und kreative Beziehung zu ihm.
Lösungen. Das Adventlied „O Heiland, reiß den Himmel auf!“ inspiriert sich an v19 – Gottes Einschreiten ist gefordert, wenn die vielen Nöte eine Wende erfahren sollen. Dazu bekennen die Menschen nun auch ihr Versagen und dessen Folgen (64,4-6) und rufen ihn erneut an (v7). Wie Jes 65 zeigt, haben sie mit ihrem Bitten Erfolg.
Impulse - Kommt meine Beziehung zu Gott der zu den Eltern nahe? - Habe auch ich ihr ‚Schweigen‘, ihre ‚Zurückhaltung‘ erfahren? Ging mir dabei etwas auf? - Gottes Mitgefühl, Liebe, Leidenschaftlichkeit und verschiedene Rollen: Wie erlebe ich Gott vor allem?
Wo bist Du? Jetzt? Aus Jesaja 63f
63,7 Der Gnadenerweise Jhwh’s will ich gedenken … v9 In all ihrer Not … sein Angesicht hat ihnen geholfen, in seiner Liebe und in seinem Mitleid hat ER, er sie erlöst … v10 Sie aber, sie waren widerspenstig und betrübten seinen heiligen Geist … v11 Man gedachte der früheren Tage …: „Wo ist, der in ihre Mitte seinen heiligen Geist gab?“ v15 Blick vom Himmel und sieh: Wo sind dein Eifer und deine Kräfte? Das Tosen deiner Eingeweide und dein Erbarmen, mir gegenüber halten sie sich zurück! v16 Doch du bist unser Vater! … ‚Unser Erlöser seit ewig’ ist dein Name. v17 Warum lässt du, Jhwh, uns abirren von deinen Wegen …? v19 Wenn du doch den Himmel zerrissest und herunterstiegest!
64,5 Und wir alle sind wie ein Unreiner geworden ... und unsere Sünden, wie der Wind haben sie uns davongetragen. v7 Nun aber: Jhwh! Unser Vater bist du! Wir sind der Ton, und du bist unser Bildner. v10 Unser heiliges Haus und unser Schmuck … wurde vom Feuer verbrannt … v11 Darüber willst du, Jhwh, dich zurückhalten, schweigen…?