Von den Ärzten war sie bereits aufgegeben. Doch dann geschah am Ostersonntag 1909 das Unerklärliche. Die dem Tod Geweihte war auf einmal fieberfrei: Hildegard Burjan. Die Heilung erlebte sie als Wunder. Für sie war klar: Jesus selbst war ihr Retter.
Sie kam frisch von der Universität Zürich. Als eine der wenigen Frauen hatte die in Glaubensfragen suchende Jüdin an der Universität Germanistik und Philosophie studiert. Gerade jung verheiratet liegt sie schon seit Monaten im Krankenhaus. Eine Zeit, die Burjan an die Grenzen bringt. Und sie erkennt: „So etwas wie diese Schwestern kann der natürliche, sich selbst überlassene Mensch nicht vollbringen. Da habe ich die Wirkung der Gnade erlebt“, erzählt sie einmal Freunden. Das Zeugnis der Ordensschwestern, die sich um sie kümmern, sind der letzte Anstoß zur Hinwendung an den katholischen Glauben. Später, bereits getauft, formuliert Burjan radikal: „Auf die Schulweisheit kommt es nur sehr wenig an, sondern einzig auf den Grad der Verbundenheit mit Christus.“
Vom Elend berührt. Kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus übersiedeln Hildegard und ihr Mann Alexander Burjan nach Wien, der dort eine steile Karriere in der Industrie macht. Hildegard wird schwanger und gebiert gegen den Rat der Ärzte, die sie als Folge ihrer schweren Erkrankung zu einer Abtreibung drängen, ein Mädchen. Doch das soziale Elend, das sie in Wien erlebt, drängt sie über die Familie hinaus. Sie erlebt hautnah kranke, behinderte, alte und arbeitslose Menschen. Und sie sieht deren Wohnverhältnisse: In Zwei-Zimmer-Wohnungen leben bis zu zehn Personen. Dazu kommen noch die sogenannten „Bettgeher“, denen man stundenweise Betten vermietete. Wer sich den Unterhalt nicht mehr leisten kann, landet in einem der gefürchteten Obdachlosenasylen. Für junge Mütter und Väter bedeutete das die Wegnahme der Kinder. Um diesem Schicksal zu entgehen, flüchteten Frauen in die Heimarbeit. Bis zu 16 Stunden am Tag müssen sie arbeiten. Für einen Hungerlohn.
Wurzel des Übels. Hildegard Burjan will da nicht länger zuschauen. Sie schreibt: „Wie können wir zulassen, dass in unserem Jahrhundert der Humanitätsduselei Tausende von kleinsten Kindern in ihren Räumen viel trauriger als Vieh in Schmutz und Elend verkommen, mit hungerndem Magen, ... mit Schlägen zur Arbeit angetrieben?“ 1912 gründet sie den „Verband der christlichen Heimarbeiterinnen“, der Unterstützung in sozialen Härtefällen bietet. Gegen viel Widerstand – auch von Heimarbeiterinnen selbst – gelingt es ihr, die Frauen zu organisieren. Allmählich fassen sie Mut, ihre soziale Situation findet Beachtung und es kommt zur gesetzlichen Festlegung von Mindestlöhnen. Auch schriftstellerisch ist sie tätig. Eine Broschüre über „Kinderarbeit“ findet große Verbreitung und führt schließlich zum Verbot. In ihrem Vorgehen war sie angetrieben von der Idee, dass „wir von der momentanen Fürsorge zurückgehen müssen auf die Wurzel des Übels“.
Durch und durch politisch. Was viele kirchliche Stellen misstrauisch betrachteten, wurde 1918 Wirklichkeit: Die Frauen erhielten in Österreich das Wahlrecht. Unter dem Vorsitz Burjans kommt es zu einer ersten Versammlung christlicher Frauen, sie wird in die Parteileitung gewählt und erste Frau im Wiener Gemeinderat. Kurze Zeit später wird sie Mitglied der Nationalversammlung. Nach Ablauf der Funktionsperiode zieht sie sich zurück. Obwohl als Sozialministerin im Gespräch, will Burjan nicht mehr. Sie ist gesundheitlich angeschlagen und will neue Arbeitsschwerpunkte setzen. Und auch der Antisemitismus macht ihr zu schaffen. So meint ein Parteikollege und späterer Minister, er wolle sich in seinem Wahlkreis „nicht von einer preußischen Sau-Jüdin“ vertreten lassen.
Neue Schwerpunkte. Burjan träumt von Schwestern, „die ähnlich wie Klosterfrauen leben, aber in der Welt draußen. Damit sie beweglich und einsatzbereit für jede Not sind, die auftaucht.“ 1919 war es schließlich so weit: Hildegard Burjan, verheiratet, wird Gründerin und Vorsteherin einer Gemeinschaft von ehelos lebenden Frauen, den Caritas-Socialis-Schwestern. Maßgeblichen Anteil daran hatte der Wiener Erzbischof Piffl, der von ihrem Werk begeistert gegen alle Widerstände an Hildegard Burjan als Vorsteherin festhielt. Sein Nachfolger, Kardinal Innitzer, wollte einen Wechsel in der Leitung – wohl auch aus antisemitischen Gründen. Immer offener wurde die Jüdin Burjan Opfer von Angriffen. Für sie und ihre junge Gemeinschaft eine harte Zeit. Und zwar auch deshalb, weil sie sich auf Arbeit stürzten, die wenig oder keine Anerkennung fand. So kritisierten etwa einige Bischöfe ihr Mutter-Kind-Haus für ledige Frauen, weil dies die Unmoral fördere.
Deo Gratias. Bei all der Arbeit – „Ruhen werde ich einst unter der Erde“ – bemüht sie sich sehr um ihre Ehe und Familie. Sie selbst erlebt die Ehe als sehr glücklich und auch ihr Mann meint: „Es war immer beglückend, an ihrer Seite sein zu dürfen.“ Tochter Lisa ist für Hildegard wohl eine große Herausforderung zwischen zu wenig Zeit und den Ansprüchen eines „Wohlstandskindes“. 1933, im Alter von 50 Jahren, stirbt Hildegard Burjan. Am Sterbebett sagt sie: „Mein Sterben ist ein einziges Deo Gratias! Vor 25 Jahren hat mich Gott aus einer Krankheit heraus an sich gezogen und berufen. Dann hat er mich 25 Jahre auf den Armen getragen wie ein Kind. Ich habe viel schlecht gemacht in meinem Leben, aber das eine weiß ich: Ich habe niemals etwas anderes gesucht als den Willen Gottes.“
Buchtipp: Gisbert Greshake. Selig, die nach Gerechtigkeit dürsten. Hildegard Burjan. Leben. Werk. Spiritualität. Tyrolia, 2008.