Die Anzahl der Kirchenaustritte, der Messbesucherinnen und -besucher, der jährlichen Priesterweihen – nach jeder Erhebung die bange Frage: Ist die Talsohle erreicht oder kann’s noch weiter bergab gehen? Univ.-Prof. Franz Gruber lenkt den Blick weg von den Zahlen zu der fundamentalen Herausforderung für den Glauben heute.
Ausgabe: 2015/17, Gruber, KTU, Rektor, Krise
21.04.2015 - Das Gespräch führte Josef Wallner
Der Begriff Krise ist in Zusammenhang mit Kirche allgegenwärtig. Wenn man aber genauer schaut, meint jeder eine andere Krise. Die auffälligste Krise ist einmal der Priestermangel. Würden Sie dem zustimmen? Franz Gruber: Nein, die auffälligste Krise ist für mich der Plausibilitätsverlust von Kirche in der Gesellschaft, der Verlust von Bedeutung und Glaubwürdigkeit. Priestermangel ist eine Folge davon. Religionssoziologisch besteht die Krise in der Herausforderung, mit Moderne und Säkularisierung zurechtzukommen.
Wie zeigt sich diese Krise? Sie zeigt sich darin, dass Glaube und Religion für die Mehrheit der Menschen keine allgemein verbindliche Lebensorientierung mehr sind. Deshalb muss sich eine Glaubensgemeinschaft, wie es die Kirche ist, auf eine völlig neue Situation einstellen. Vom 4. Jahrhundert bis in die Gegenwart wurde die Kirche im Modell der Staatsreligion organisiert. Die Bedeutung des Glaubens und seine Weitergabe wurden von der Gesellschaft und der Politik getragen, mit allen positiven und negativen Folgen. Seit der Aufklärung wird Glaube zur Frage des einzelnen. Das ist der Prozess, in dem wir stehen. Für diese Neuformatierung von Glaube und Gesellschaft gibt es deshalb auch kein Patentrezept.
Reden wir jetzt von Europa? Ja, und von Amerika, auch zunehmend von asiatischen Kulturen. Im Hinduismus gibt es ähnliche Prozesse. Die tradierten Formen religiöser Praxis kollabieren dort ähnlich wie im Westen.
Christentum und Islam sind aber weiterhin weltweit wachsende Religionen ... Es gibt zwei Milliarden Christen, die Gründe des Wachstums sind allerdings nicht unbedingt immer spiritueller Natur, oft geht es um demographische Entwicklungen, um Beheimatung in einer Gemeinschaft oder um bessere Zukunfts- und Aufstiegschancen. Zahlenmäßige Zuwächse sind für sich genommen noch kein Kriterium der Wahrheit.
Zurück zu Europa. Da wird das Christentum ordentlich durchgebeutelt. Welche Antwort gibt die Kirche darauf? Die Kirche hat unterschiedliche Antworten: das Konzil betont den Weg des Dialogs, einige Gruppierungen neigen zum traditionalistischen oder fundamentalistischen Rückzug, andere beschreiten radikal experimentelle Wege. Allen gemeinsam sind die Herausforderungen dieser Krise. Eine der wichtigsten ist für mich die Frage der Glaubenserfahrung. Wo machen heute Menschen Erfahrungen, so dass überhaupt die Bedeutsamkeit des Glaubens in den Blick kommt? Wo sind die spirituellen Zündfunken?
Wo sehen Sie noch gravierende Probleme? Eine andere Herausforderung ist die Glaubensbildung. In einer Wissensgesellschaft über den Glauben nicht Rechenschaft geben zu können, ihn nicht zeitgemäß artikulieren zu können, bedeutet entweder in eine naive oder gar fundamentalistische Form zurückzufallen oder für seine Umwelt unverständlich zu werden. Hier sehe ich leider auch ein Versagen der Konzilsgeneration. Eine Erneuerung der Glaubensbildung scheint mir misslungen zu sein. Viele können den christlichen Glauben in einer angemessenen Weise im heutigen Weltbild nicht mehr artikulieren, wie sollen sie dann einen solchen Glauben an die nächste Generation weitergeben können?
Das ist wohl die nächste Krise ... Ja, die Glaubenskommunikation. Wie können wir den Glauben für Menschen attraktiv, spannend und lohnenswert darstellen?
Wie kann der spirituelle Funke überspringen? Franz Gruber: Das kann man nicht machen, aber man kann den Boden bereiten – für den Sinn des Lebens, für ein achtsames Zusammenleben, für das Gespür von Tiefe und das kritische Bewusstsein, dass die betriebsame Oberflächlichkeit nicht ausreicht für ein gelingendes Leben.
Was braucht es für Kinder und Jugendliche, dass sie Religion entdecken? Eine gute religiöse Erziehung im Sinn von authentisch gelebter Religiosität ist sicher auch heute eine unverzichtbare Basis. Es braucht Gemeinschaften, Vorbilder, von denen Jugendliche sagen: solche Menschen und ihre Lebensweise sind glaubwürdig, das möchte ich auch versuchen.
Wie kann Glaubenswissen entstehen? Es entsteht in der denkenden Beschäftigung mit Glaube und Welt, in Gesprächen, in guter Seelsorge, in guten Predigten, in Bildungsprozessen usw. Da sehe ich leider eine große theologische Qualitätskrise unseres hauptamtlichen Personals. Hinzu kommt die Überalterung des Klerus. Wie sollen 70-Jährige in die Lebenswelt der Zwanzig- oder Dreißigjährigen noch eintauchen können?
Wenn es um die Glaubensweitergabe geht, kommt man doch an den strukturellen Fragen wie Priestermangel nicht vorbei ... Es ist eine nicht zu leugnende Hausaufgabe der Kirche, das priesterliche Amt neu zu denken, aber nicht bloß auf quantitative Weise. In der evangelischen Kirche gibt es keinen Mangel an männlichen und weiblichen Amtsträgern, sie erlebt aber weitgehend dieselben Krisenphänomene wie die katholische Kirche. Gemeinden brauchen eucharistische und priesterliche Leitung. Es ist deshalb höchste Zeit, die Zugangsbedingungen zum Priesteramt zu reformieren.
Es gibt Versuche, Antwort in der Tradition zu finden ... Solchen Lösungsmodellen stehe ich skeptisch gegenüber, wenn Tradition meint, in die Vormoderne zurückzukehren. In Krisenzeiten ist die Rückkehr zur sakralen, hierarchischen Kirchenordnung anziehend. Ich möchte vorschlagen, katholisch offen zu sein. Wir brauchen eine Vielzahl von Entwicklungsversuchen, die Krise, die heute ansteht, wird man aber nicht durch lateinischen Chorgesang und Messritus lösen können. Die Kirche der Zukunft wird deshalb nicht mehr so einheitlich aussehen, weil auch unsere Gesellschaft bunter und vielfältiger ist. Die Kirche darf bunt sein, soll vielfältige Wege anerkennen und zulassen. Entscheidend ist aber, dass alle Wege die Zeitgenossenschaft mit den Menschen suchen. Es geht darum, die Leidenden, die Suchenden, wo immer sie sind, wahrzunehmen, mit ihnen das Leben zu teilen. Gott erschließt sich dann von selbst, auch wenn wir mit ihm als Schweigenden, als scheinbar Abwesenden im Leid selbst mit ihm ringen.
Sind Sie pessimistisch? Nein, denn ich glaube an die Zusage Gottes, mit den Menschen, mit der Kirche den Weg durch die Geschichte zu gehen, trotz aller Irrwege und Krisen. Das bedeutet auch darauf zu vertrauen, dass Gott uns Wege zeigt, die wir vielleicht jetzt noch nicht sehen können oder wollen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir für diese Krise noch einmal sehr dankbar sind, weil sie uns geholfen hat, das Evangelium neu zu entdecken. Papst Franziskus ist für mich ein solcher „Pfadfinder des Evangeliums“ für eine Kirche von morgen.