Geht die Europäische Union nach dem Volksentscheid für den Austritt Großbritanniens („Brexit“) ihrem Ende entgegen? Nein, sagt der Theologe und Experte für Christliche Gesellschaftslehre, Dekan Wolfgang Palaver. Er erinnert an den Geist der Gründungsväter des europäischen Einigungsprozesses und mahnt Ziele für die EU jenseits wirtschaftlicher Interessen ein.
Ausgabe: 2016/26
28.06.2016 - Heinz Niederleitner
Die Reaktionen auf den „Brexit“ liegen zwischen „Diese EU ist tot“ und „Die EU kann jetzt stärker werden“. Wozu tendieren Sie?
Wolfgang Palaver: Ich denke, die EU kann jetzt stärker werden. Es ist zwar eine fundamentale Krise, aber in ihr ist die Chance zu einer verbesserten EU zu sehen.
Von Krisen haben wir aber in den letzten Jahren schon viel gehört. Fehlt es dagegen nicht an Visionen für die Zukunft Europas?
Das Fehlen von Visionen ist ein Teil des Problems. Die EU und ihre Vorgängerinstitutionen hatten stets eine wirtschaftliche Schlagseite: Man glaubt, ein großer gemeinsamer Markt bringt alle Vorteile, übersieht aber die Voraussetzungen, die es für eine positive Entwicklung braucht. Der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider hat 1957 – kurz nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – schon gesagt, man müsse aufpassen: Die Börse des gemeinsamen Marktes dürfe nicht mehr gelten als das Herz Europas.
In Großbritannien haben ja die EU-Befürworter stark mit wirtschaftlichen Konsequenzen eines EU-Austritts argumentiert – letztlich ohne Erfolg. Heißt das, allein mit wirtschaftlichen Argumenten erreicht man die Bürger nicht?
Es haben beide Seiten sehr ökonomisch argumentiert. Insbesondere Wirtschaftsführer haben versucht, vor den Folgen des Brexit zu warnen. Bei den Menschen ist offenbar angekommen: Die EU nützt ein paar Reichen und den großen Unternehmen, aber nicht mir.
Wenn Wirtschaft nicht der Kitt im Gefüge der EU sein kann, was dann?
Aus Sicht der Katholischen Soziallehre ist es die Solidarität. Darauf hat Papst Johannes Paul II. oft hingewiesen. Wir können die Globalisierung nicht rückgängig machen. Aber wir müssen sie zu einer Globalisierung der Solidarität weiterentwickeln. Denn die haben wir bisher nur in kleinen Räumen in unseren Staaten verwirklicht. Wie schlecht es derzeit in der EU um die Solidarität steht, sehen wir in der Flüchtlingsfrage. Gesetze können Solidarität nicht erzwingen. Es braucht eine von unten getragene solidarische Kultur. Und jeder Einzelne muss dazu beitragen.
Papst Franziskus hat bei der Entgegennahme des Karlspreises heuer auf die Ideale der Gründerväter des europäischen Einigungsprozesses hingewiesen. Wo sind diese Ideale geblieben?
Es war eine spirituelle Haltung im umfassenden Sinn, die Politiker wie Jean Monnet, Robert Schuman oder Konrad Adenauer angetrieben hat: Sie hatten die Schrecken des Zweiten Weltkriegs vor Augen und begannen eine Wirtschaftsgemeinschaft bei Kohle und Stahl, um Krieg in Zukunft zu verhindern. In Großbritannien wurde nach der aktuellen Abstimmung nun darauf hingewiesen, dass die ältere Generation, die mehrheitlich für den Austritt gestimmt hat, im Wesentlichen keine Generation mit eigener Kriegserfahrung mehr ist und vor allem vom Wachstum der Nachkriegszeit geprägt wurde. Dass vor allem die jungen Menschen für den Verbleib in der EU gestimmt haben, gibt aber Hoffnung: Es kann besser werden, wenn wir uns bemühen, die tieferen Dimensionen und Motive der Gründungsväter wieder in den Vordergrund zu stellen.
Adenauer, Schuman oder Alcide De Gasperi: Diese EU-Gründungsväter waren bekennende Katholiken. Gleichzeitig hat die Kirche – bei aller Kritik an der EU in manchen Fragen – den europäischen Einigungsprozess stets wohlwollend begleitet. Warum?
Der Einigungsprozess ist eine Reaktion auf die Sackgasse der nationalstaatlichen Spaltung, die Europa im Ersten und Zweiten Weltkrieg an den Rand des Abgrunds geführt hat. Die katholische Kirche hat es dagegen schon sehr früh abgelehnt, das nationalstaatliche Denken zum absoluten Maßstab zu machen. Insofern hat sich die moderne Welt mit der EU, aber auch der UNO einem alten katholischen Gedanken angenähert. Es geht darum, Einheit in Vielfalt zu gestalten.
Manche sehen Europa im Stadium eines zerfallenden Reiches – wie einst die Habsburgermonarchie. Was sagen Sie zu solchen Einstellungen?
Europa steckt eher noch in den Kinderschuhen. Die Herausforderung, in einem großen Raum miteinander solidarisch zu sein, ist keine Sache, die in 50 oder 60 Jahren wächst. Da braucht es einen längeren Atem. Um wieder auf Reinhold Schneider zu verweisen: Er hat schon in den 1950er Jahren gesagt, es brauche keine entmutigenden Voraussagen, aber auch keinen billigen, oberflächlichen Trost. Wir sollen also nicht das Ende des Abendlandes heraufbeschwören, aber auch nicht behaupten, es gebe keine Herausforderungen.
Manche meinen, unser größtes Problem ist, dass es uns so gut geht ...
Kritisch kann man sagen: Wir sind eine sehr satte, selbstzufriedene Gesellschaft und das ist eine Gefahr. Gerade angesichts der Flüchtlingsfrage könnten wir aber den Blick über den Tellerrand wagen und erkennen, in welch privilegierter Situation wir sind. Es ist nicht so, dass wir keine Chance hätten, die Bedrohungen in der Welt zu erkennen. Im Übrigen ist die EU ein wichtiges Experiment: Die Globalisierung der Solidarität bräuchten wir weltweit. Aber wenn es uns in Europa nicht gelingt, wie sollte das weltweit gehen?
In Österreich diskutieren manche Politiker einen „Öxit“ bzw. eine Abstimmung über einen EU-Austritt Österreichs. Halten Sie das für realistisch?
Ich halte das für sehr unrealistisch. Wir sind als kleines Land in einer ganz anderen Position als Großbritannien. Österreich ist zudem mit Deutschland wirtschaftlich eng verbunden. Und ich denke, man wird sehr bald sehen, dass die Schwierigkeiten Großbritanniens keine positiven Signale in diese Richtung aussenden. Es ist ein Irrtum zu glauben, mit nationalistischer Abschottung könne man das Problem der Globalisierung lösen.
Angesichts des „Brexit“ wird über die Zukunft Europas diskutiert: Bauen wir sie zu einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft zurück? Oder setzen wir weiter auf mehr gemeinsame Politik?
Ich bin für mehr gemeinsame Politik. Aber wir müssen lernen, dass das nicht der Weg zu einem gleichgeschalteten europäischen Zentralstaat sein kann. Ich bin viel in den USA. Aber egal, ob ich an der Ostküste oder in Kalifornien bin: Ich bewege mich immer im selben kulturellen Raum. Von Innsbruck aus bin ich dagegen in zwei Stunden in Italien oder in der Schweiz und damit in jeweils einer ganz anderen Kultur. Das ist ein großer Reichtum. Die Aufgabe der EU ist, die regionalen Unterschiede zu bewahren und doch politisch stärker zusammenzuarbeiten.
Reaktionen
„Wille des Volkes“. Papst Franziskus hat Respekt vor der Entscheidung Großbritanniens zum EU-Austritt angemahnt und zur Besonnenheit aufgerufen. „Es war der ausdrückliche Wille des Volkes“, sagte er. „Das erfordert von uns allen eine große Verantwortlichkeit, um das Wohl des britischen Volks und auch das Wohl und das Zusammenleben des ganzen europäischen Kontinents zu gewährleisten. Das erwarte ich.“
„Weckruf“. Das „Brexit“-Votum sei bedauerlich, müsse aber als ein „Weckruf für einen neuen europäischen Humanismus“ betrachtet werden, zu dessen Verwirklichung alle aufgerufen seien, sagte Österreichs „Europa-Bischof“ Ägidius Zsifkovics. „Der europäische Traum wäre nur dann ausgeträumt, wenn der Einsatz für Menschenrechte an letzter Stelle einer europäischen Vision stünde.“ Angesichts seiner Vertrauens- und Orientierungskrise müsse das Friedensprojekt EU erneut Antworten auf Probleme der Gegenwart finden. Zu diesen zählte Zsifkovics die Flüchtlings- und Migrationskrise sowie die Suche nach einer gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftsform.
„Augenmaß“. Der Vorsitzende der EU-Bischofskommission COMECE, Kardinal Reinhard Marx, bedauert die Entscheidung der Briten für den EU-Austritt. Verlasse ein Mitglied bewusst die Union, sei das „schmerzhaft“ und habe Konsequenzen für alle, erklärte Marx in Brüssel. Die Austrittsverhandlungen verlangten nun von allen Betroffenen Verantwortung und das „rechte Augenmaß“.