Papst Franziskus wird im Juli nicht nur zum Weltjugendtag nach Rio de Janeiro kommen. Er will auch den brasilianischen Wallfahrtsort Aparecida besuchen. Dort fand im Mai 2007 die 5. Vollversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates statt. Er forderte eine „missionarische Kirche“ im Dienst an den Armen und Ausgegrenzten. Bischof Erwin Kräutler über den Papst und Aparecida.
Ausgabe: 2013/14, Papst Franziskus, Kirche der Armen, Lateinamerika, Erwin Kräutler
03.04.2013 - Hans Baumgartner
Sie nahmen als Delegierter der brasilianischen Bischöfe an der Vollversammlung in Aparecida teil. Erinnern Sie sich noch an Kardinal Bergoglio?Kräutler: Wenn ich gewusst hätte, dass er Papst wird, hätte ich vielleicht aufmerksamer hingeschaut. Im Ernst: Bergoglio hat sich weder durch besonders markante Wortmeldungen noch durch sein Auftreten in den Vordergrund gedrängt. Er ist tatsächlich sehr bescheiden, wenn es um seine Person geht, aber er ist auch gescheit und entschlossen, wenn es um die Sache geht. Als Vorsitzender der Redaktionskommission für den Schlusstext (350 Seiten) hatte er einen schwierigen Job zu leisten.
Wie ist das zu verstehen?
Die Konferenz entwickelte sehr bald eine faszinierende Dynamik und in der Folge mussten Hunderte Eingaben gesichtet, diskutiert und eingearbeitet werden. Ich selber habe zigmal zu nachtschlafener Stunde – oft gemeinsam mit anderen Bischöfen – Eingaben geschrieben, nachdem wir vorher ausgiebig mit Theologen und Leuten aus den Gemeinden diskutiert hatten. Ich denke, es ist neben der Tat- sache, dass an den wichtigen Schalthebeln die richtigen Leuten saßen, auch Bergoglios uneitlem und ehrlichem Einsatz zu verdanken, dass zum Schluss ein Dokument herausgekommen ist, das ich mir kaum zu erhoffen wagte – etwa in der klaren Bekräftigung der „Option für die Armen“ (Puebla 1979) und der Bedeutung der Basisgemeinden für die Kirche der Armen und Bedrängten in Lateinamerika.
Die „Option für die Armen“ oder die Basisgemeinden sind aus der Befreiungstheologie gewachsen. Bergoglio, so hieß es, war nie ein Befreiungstheologe. Wie sehen Sie das?
Ich kann mit diesem typisch europäischen Schubladendenken nichts anfangen. Es stimmt, Bergo-glio war kein „Befreiungstheologe“ und er hat in diesem Diskurs auch nicht Stellung bezogen, weil er in seinem Leben andere Aufgaben wahrzunehmen hatte, als Jesuitenoberer oder als Bischof. Aber die Grundanliegen der Befreiungstheologie, die vertritt er, die lebt er. Und das zählt – dass er zu den Armen geht und sie nicht bloß zu trösten versucht, sondern dass er mit wachem Blick die Situation hinterfrägt und die Verantwortlichen und Strukturen klar benennt, die dazu führen, dass soundsoviel Millionen Menschen in Armut leben und unter einer weitgehenden Ausgrenzung leiden. Und, was ebenfalls zum befreiungstheologischen Ansatz gehört: Er glaubt daran, dass Gott unter diesem Volk ist, dass er nicht ein Gott in der Ferne ist, sondern ein Gott, der mit dem Volk geht, der die Unterdrückung sieht und den Schrei hört, der herabsteigt, um das Volk aus der Sklavenhütte zu befreien (Exodus 3,7). Nicht zufällig nannten ihn die Menschen über Buenos Aires hinaus den „Bischof der Armen“.
Was erwarten Sie sich nun von Papst Franziskus als „Anwalt“ der Armen und der Gerechtigkeit?
Ich denke, da wird er uns noch einiges zum Auflösen geben und für Überraschungen sorgen. Zunächst aber freue ich mich, dass er schon in seinen ersten Tagen in seinen Gesten gezeigt hat, da ist einer, der sich als Bischof von Rom in sein Volk hineinstellt, der sich vor dem Volk Gottes verneigt und um seinen Segen bittet für den gemeinsamen Weg. Mit der Wahl seines Namens Franziskus hat er sich die Latte hochgelegt, die Armen stets im Blick zu haben. Gefreut habe ich mich auch über vieles, was er bei verschiedenen Anlässen gesagt hat: Von der Nachfolge Jesu als arme Kirche an der Seite der Armen, von den Jünger/innen Jesu, die sich die Sorgen und Nöte der Menschen zu eigen machen (Vatikanum II), von der Notwendigkeit einer gerechteren globalen Ordnung und eines neuen Umgangs mit der Natur bis hin zu seinem respektvollen Gruß an die Juden und Muslime, verbunden mit der Einladung, zum Wohle der Menschen mehr zusammenzuarbeiten – da klang so viel von dem an, was wir in Apa- recida besprochen und beschlossen haben.
Heißt das, mit Franziskus geht die Kirche von Rom nach Buenos Aires? Zunächst einmal sehe ich eine große Echtheit darin, dass Franziskus nicht diplomatisch eine erwartete Rolle erfüllt, sondern der bleibt, der er ist, ein in der Glaubens- und Lebensrealität Lateinamerikas Verwurzelter. Vielleicht macht er damit bewusster, dass wir eine Weltkirche sind, eine Kirche, die in sehr unterschiedlichen Realitäten und Herausforderungen lebt. Ich fände es gut, wenn sich unsere Kirche ein Stück weit von Europa abnabelt und sich in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Praxis zu einer Weltkirche hin öffnet. Das würde aber auch bedeuten – und da hoffe ich sehr auf Papst Franziskus – dass die weltkirchlichen Erfahrungen stärker zur Geltung kommen.
Damit sind wir bei der von vielen geforderten Reform in der Art der Kirchenleitung und in der römischen Kurie. Ist das wirklich so wichtig?
Ich denke schon. Und das ist auch eine große Herausforderung für den neuen Papst, denn da gibt es mehrere Baustellen. Zunächst hoffe ich, dass er den Stab seiner Mitarbeiter nicht nur internationalisiert, sondern dass er – auch aus seiner bisherigen Erfahrung – verstärkt Laien, und ich sage bewusst: auch Frauen!, zur engeren Mitarbeit heranzieht.
Ein weiterer, dringend notwendiger Schritt wäre, das Subsidiaritätsprinzip in der Kirche umzusetzen. Ich bin jetzt fast 50 Jahre am Xingú, davon 35 Jahre als Bischof. Ich kenne die Realität und die Menschen hier wie nur wenige. Ich glaube nicht, dass ein vatikanischer Monsignore mehr von unserer Situation versteht. Deshalb sollte ich als Bischof auch – gemeinsam mit meinen Leuten – entscheiden können, was uns betrifft. Ähnliches sollte auch für die Bischofskonferenzen und die kontinentalen Bischofsräte gelten. Gleichzeitig damit müsste – auch um den Zusammenhalt zu fördern – die Kollegialität der Bischöfe mit dem Papst in der Leitung der Kirche gestärkt werden. Das Konzil hat deutlich gesagt, die Verantwortung für die Kirche liegt nicht nur beim Papst, sondern auch bei den Bischöfen – und ich würde dazu sagen: auch bei den pastoralen Gremien. Ich kann mir gut vorstellen, dass – ähnlich wie wir das etwa in Lateinamerika vor Aparecida gemacht haben – wichtige Fragen für die Zukunft der Kirche weltweit breit diskutiert werden und dass dann auf dieser Basis die Vertreter der Bischofskonferenzen gemeinsam mit dem Papst die notwendigen Entscheidungen treffen. Mit diesem Vorschlag greife ich nur einen Gedanken des II. Vatikanischen Konzils auf, das vom „sensus fidei“, vom gemeinsamen Glaubenssinn des Gottesvolkes, spricht. Meines Erachtens hat man in den letzten Jahrzehnten in manchen Bereichen viel zu wenig auf das Konzil geschaut und es verabsäumt, seine Anstöße in die heutige Zeit weiterzuentwickeln. Dass Papst Franziskus sich zunächst als Bischof von Rom vorstellte, der die „Schwesterkirchen“ einlädt, gemeinsam mit ihm zu gehen, halte ich für ein starkes Zeichen.